Drittes Buch

Befürchten Sie nicht, mein angenehmer Freund, daß ich in meinen Bekenntnissen von Dingen sprechen werde, welche Sie weit besser wissen, als ich. Mein Reise-Journal liegt zwar neben mir; allein ich werde mich wohl in Acht nehmen, Ihnen durch die Mittheilung desselben Langeweile zu machen. Alles, was ich Ihnen mitzutheilen habe, sind einzelne Bemerkungen, hergenommen von dem Eindruck, den Gegenstände der Natur und Kunst, oder auch sehr interessante Personen, während meiner Reise auf mich gemacht haben. Auf diese Weise werd' ich dem Alltäglichen entrinnen, und die Geschichte meiner Entwickelung beendigen, ohne auch nur ein einziges Mal in den unverzeihlichen Fehler der Geschwätzigkeit verfallen zu seyn.[267] Ich selbst finde meine Rechnung bei diesem Verfahren; denn das Schreiben ist in sich selbst eine so große Beschwerde, daß ich gar nicht begreife, wie Leute sie überwinden können, die, um mich des gewöhnlichen Ausdrucks zu bedienen, durchaus nichts auf ihrem Herzen und Gewissen haben. Doch zur Sache!

Wenn die meisten Reisenden gar keinen Beruf zum Reisen haben, so haben dafür diejenigen Individuen den allerbestimmtesten Beruf, die aus dem Kampf mit der Gesellschaft eine Empfindlichkeit davon getragen haben, vermöge welcher sie, in bleibenden Verhältnissen, nur beleidigen oder beleidigt werden können. Auf Reisen hat man es in seiner Gewalt, seine ganze Eigenthümlichkeit zu behaupten; denn von dem Augenblick an, wo sie bekämpft wird, reiset man weiter; und da dem Reisenden, besonders dem bemittelten Reisenden, alles entgegen kommt,[268] so fehlt es nie an Gelegenheit zu neuen Verhältnissen, die alsdann wiederum so lange dauern, als sie können.

In dieser Hinsicht war mein Bedürfniß zu reisen bei weitem nicht so stark, als das der Herzogin; allein da ich nur an meinen Idealen hing und in der Herzogin die Repräsentantin derselben liebte, so war es mir vollkommen gleichgültig, an welchem Orte ich existirte; und auf diese Weise begegneten die Wünsche meiner Freundin vortrefflich meinen Neigungen. Selbst die Reise nach der Schweiz ließ ich mir sehr gern gefallen, ob ich gleich für dieses Land nie die mindeste Zärtlichkeit empfunden hatte. Die Vorliebe der Herzogin für dasselbe gründete sich von der einen Seite auf die hohe Achtung, welche sie für Haller unterhielt, von der anderen auf die Urtheile jüngerer Dichter, welche die Schweiz als das Land der Freiheit und des Ruhmes besungen[269] hatten. Um keinen Preis hätte sie sich von einer Reise dahin abwendig machen lassen.

Ich gestehe, daß, nachdem wir an Ort und Stelle angelangt waren, die Naturwunder der Schweiz einen starken Eindruck auf mich machten; allein wenn dieser Eindruck zur Erhebung führte, so führte er zugleich zur Niedergeschlagenheit; mit einem Worte: Er verwirrte das Gemüth und raubte die innere Freiheit, ohne welche es unmöglich ist, sich wohl zu befinden. Herrliche Einfassungen, eine üppige Vegetation und – was immer damit zusammenhängt – eine kräftige Animalität zeichnen die Schweiz vor allen Ländern Europa's aus; hat sie aber das, was der gebildete Mensch unaufhörlich sucht – Menschen von höherer Entwickelung? Ich möchte nicht gern darüber absprechen; das aber kann ich mit Wahrheit behaupten, daß ich dergleichen in der Schweiz nicht[270] gefunden habe. Eben deswegen ist mir dies Land immer als ein schöner Rahmen mit einem schlechten Bildniß erschienen. Ich habe nicht den Muth gehabt, dies jemals öffentlich zu sagen, weil ich mich auf den allgemeinsten Widerspruch gefaßt machen mußte; allein deshalb würde ich, wenn es einmal gölte, mein Urtheil nicht minder standhaft vertheidigen. Worin die große Beschränktheit der Schweizer ihren letzten Grund hat, ob in ihrer Umgebung, oder in ihrer Verfassung, das mögen Andere entscheiden; genug daß sie allgemein ist, und daß, wenn man sich mit der Schweizerheit selbst nicht identifiziren kann, eigentlich kein Interesse für diese Nation möglich ist. Selbst die Herzogin, so groß auch ihre Vorliebe für die Schweiz war, trat zuletzt mit dem Geständniß hervor, daß es ihr problematisch geworden sey, ob man die Schweizer zu den Menschen rechnen könnte, da sie[271] immer und ewig auf demselben Punkt blieben, und die Entwickelung des übrigen Europa kaum im Widerschlage theilten. »Ich würde mich,« sagte sie, »auf das tödtlichste langweilen, wenn die todte Natur hier nicht den Ausschlag über die lebendige gäbe; um jener willen muß man dieser etwas nachsehen; es versteht sich ja auch von selbst, daß da, wo Adel ist, auch Gemeinheit seyn muß.«

Nach meiner Zurückkunft in Deutschland hab' ich, um meine Urtheile über die Schweizer zu berichtigen, ihre Geschichte studirt; allein ich muß gestehen, daß mich mein Studium in diesen Urtheilen nur bestärkt hat. Und hier kann ich nicht umhin, die Bemerkung zu machen, daß die Vorurtheile über die Schweiz in dem gegenwärtigen Augenblick so allgemein sind, daß sie sich selbst über den neuesten Geschichtschreiber dieses Volks erstrecken. Wie dieser Mann zu seiner Reputation[272] gelangt ist, begreife ich durchaus nicht. Seine Art zu komponiren hat für mich so viel Widerwärtiges, als ob ich mit entblößten Füßen über scharfe Kiesel laufen müßte. Ich bin so leicht nicht abzuschrecken, wenn es Belehrung gilt; aber es ist mir nicht möglich, acht Blätter von ihm hintereinander zu lesen, ohne mich ermüdet zu fühlen, und ich fordere alle Leute von Geschmack und Bildung auf, mir zu sagen, ob es ihnen besser gelingt? Ich will nicht sagen, daß die Affektation selbst bei der Abfassung den Vorsitz geführt habe, wiewohl ich nicht begreife, wie man ohne der Einfachheit den förmlichsten Abschied gegeben zu haben, so schreiben kann; allein, wenn der Styl in historischen Compositionen auch noch so gleichgültig seyn sollte, so entsteht noch immer die Frage: Wo hier die historische Composition sey? Dieser Mann muß auch nicht die allerentfernteste Idee von einem Kunstwerk[273] haben. Alle guten Geschichtsbücher, die ich bisher gelesen habe, enthielten in der Darstellung selbst so viel Nothwendiges, daß mein Geist wider seinen Willen angezogen und fortgerissen wurde; in der sogenannten Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft hingegen mag ich anfangen wo ich will, mein Interesse ist immer und ewig dasselbe, d.h. gleich null; und wenn es nicht vorher ausgemacht ist, daß die Schwerkraft der Schweizer eben so wenig eine eigentliche Geschichte gestattet, als die der Felsenwände, wovon sie umgeben sind, so kann die Schuld nur an der Unfähigkeit des Geschichtschreibers liegen, der es nicht versteht, die Notizen zu Thatsachen zu erheben, und durch die abgemessene Zusammenstellung dieser Thatsachen ein anziehendes Ganze zu bilden. Doch was geht mich die Kritik an? Ich bitte allen Grazien die Sünde ab, die ich hier begangen habe; dabei versichere ich[274] aber, daß ich sie nicht begangen haben würde, wenn ich es dem Deutschen verzeihen könnte, daß er sich in seinem Götzendienst immer gleich bleibt, nicht ahnend, daß er von allen Bestandtheilen des menschlichen Geschlechts zuletzt der einzige wahre Gott ist und allein Verehrung verdient.

Wie es sich aber auch mit der Schweiz und ihren Bewohnern verhalten mag, immer bleibt es ausgemacht, daß man sich für Italien, als das Land der schönen Kunst, nicht besser vorbereiten kann, als durch einen längeren Aufenthalt in der Schweiz. Schwerlich giebt es zwei Länder, die sich in jeder Hinsicht noch mehr entgegen gesetzt wären. In der Schweiz sind die Menschen nichts; in Italien hingegen sind sie alles. Mag das Weltgeschick die Bewohner dieses schönen Erdstrichs für den Augenblick noch so sehr niedergedrückt haben; deshalb haben sie[275] nicht aufgehört, die Herrn der Erde zu seyn; ihr ganzes Wesen kündigt an, daß sie es gewesen sind, und daß es nur begünstigender Umstände bedarf, damit sie es von neuem werden. Auf keinem Erdfleck hat es seit drei bis vier Jahrhunderten so viel Revolutionen gegeben, als in Italien; und ob man gleich, diesen langen Zeitraum hindurch, nie den rechten Punkt getroffen hat, so folgt doch daraus nicht, daß man ihn niemals treffen werde. Eine bessere politische Verfassung ist es, was den Völkern Italiens fehlt, und ist diese nur erst vorhanden, so wird sich die alte Größe ganz von selbst wieder herstellen. Mailand und Toskana ausgenommen, hat die Natur im Ganzen genommen sehr wenig für die Bewohner Italiens gethan; aber gerade dieser Umstand ist es, dem die Italiäner diesen hohen Grad von Entwickelung zu verdanken haben, in dessen Besitz sie sich befinden.[276]

Wir gingen nach einem zweijährigen Aufenthalt in den verschiedenen Hauptstädten der Schweiz nach Italien. Da die Kunst der Magnet war, welcher uns zog, so eilten wir nach der Hauptstadt des Kirchenstaates, wo wir mehrere Jahre verweilen wollten. Unser Weg führte uns durch das Mailändische nach Florenz. Hier machten wir die Bekanntschaft der Gräfin Luisa Stolberg d'Albania, Gemahlin des Prinzen Stuart, Prätendenten von England; und mehr bedurfte es nicht, um uns auf der Stelle Fesseln anzulegen, die wir Mühe hatten wieder abzustreifen.

Denn welche eigenthümliche Richtungen wir auch in unserer Ausbildung genommen hatten, so zeigte uns doch jetzt die Erfahrung, daß wir nicht die Einzigen unserer Gattung waren. Die Gräfin Luisa d'Albania war Unseresgleichen; auch hatten wir uns kaum kennen gelernt, als wir mit aller der Unzertrennlichkeit an[277] einander hingen, welche gleichgestimmten Gemüthern eigen ist. Das Einzige, wodurch die Gräfin sich von uns unterschied, war ihre Religiosität; da diese aber mit dem, was man kirchlichen Glauben nennt, durchaus nichts gemein hatte, so bildete sie auch keinen trennenden Unterschied. Es giebt offenbar Dinge, welche über alle Beschreibung hinaus sind; und zu diesen Dingen gehört eine solche Religiosität, als die der Gräfin war. Ihrem Wesen nach, so weit ich dasselbe habe beobachten können, bestand sie in einem unablässigen Streben nach Harmonie mit dem Universum. In ihr war also alles begriffen, was Philosophie und Poesie genannt werden kann; nicht etwa diejenige Philosophie, welche darauf ausgeht, einen dynamischen obersten Grundsatz für das All der Welterscheinungen aufzufinden, sondern diejenige, welche über alles, was Erscheinung ist, hinaus strebt, und sich in das Wesen[278] der Dinge versenkt und mit Poesie einerlei ist. Wie die Gräfin zu dieser Entwickelung gelangt war, weiß ich nicht mit Bestimmtheit anzugeben; unstreitig aber hatte ihre Verbindung mit einem so prosaischen Prinzen, als ihr Gemahl war, das Meiste dazu beigetragen. Zwischen beiden fand eben das Verhältniß statt, welches mehrere Jahre hindurch die Herzogin gedrückt hatte; und da die Unmöglichkeit einer Trennung aus staatsbürgerlichen Gründen für die Gräfin eine unwiderstehliche Gewalt erhalten hatte; so war ihr nichts anderes übrig geblieben, als die freieren Sitten Italiens zu einer Verbindung zu benutzen, welche ihrem ins Unendliche hinstrebenden Geiste zwar eine Stütze gewährte, allein doch bei weitem mehr versprach als wirklich leistete.

Der Mann, mit welchem die Gräfin in Verbindung stand, war der Graf Vittorio Alfieri d'Asti, ein Piemontese, dessen[279] Tragödien in Deutschland jetzt bekannter zu werden anfangen. Nie hab' ich einen Sterblichen kennen gelernt, der mir das Bild, das ich mir immer von dem jüngeren Brutus, dem Mörder Cäsars, entworfen habe, getreuer repräsentirt hätte. Ich kann mit Wahrheit sagen, daß er ein Römer im höchsten Sinne des Worts war; eine Natur, wie man sie in unseren Zeiten gar nicht mehr erwarten sollte. Eine lange, hagere Gestalt, bewegte er sich langsam, mit starrem, auf die Erde geheftetem Blick. Sein Gesicht war blaß, seine Lippen fein und geschlossen, seine Zähne weiß und scharf, seine Nase regelmäßig gebildet, seine Augen dunkelblau, seine Stirne groß, aber schön gewölbt. In seiner Miene lag neben unbegränztem Wohlwollen eine Wuth, die auch das Äußerste nicht scheuet; und dies war so ganz der Charakter seines Gemüthes, in welchem die sanftesten Empfindungen neben[280] den allerheftigsten bestanden. In seinem Geiste flossen die Geister des Tacitus, Macchiavelli und J. J. Rousseau zusammen. Wie in einem der edelsten Römer aus den besten Zeiten der Republik, war in ihm Alles auf das Politische hingerichtet. Er hatte keinen Begriff davon, wie die Poesie sich selbst Zweck seyn könnte; und darum wollte er ihr einen politischen Zweck geben. Alle Monarchien der Welt zu stürzen, darauf arbeitete er in seinen Trauerspielen hin, und ohne diesen Zweck würde er es nicht haben über sich erhalten können, eine Feder anzusetzen. Gewissermaßen war dies der böse Dämon der ihn trieb; aber er war weit davon entfernt, ihn dafür anzuerkennen, und würde wüthend geworden seyn, hätte man einen Versuch gemacht, ihm das Falsche seiner Idee zu zeigen. Was man gemeiniglich unter einem Aristokraten versteht, giebt nur eine schwache Idee von seinem Wesen,[281] und ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß er die Repräsentation der Aristokratie in der höchsten Potenz war, gerade so, wie jeder alte Römer, nachdem die Universalherrschaft errungen war. Was er ewig bedauerte, war, in diesen elenden Zeiten geboren zu seyn, die keinen freien Aufflug durch Thaten gestatteten, und in dem Schreiben allein eine Entschädigung erlaubten. »Ich setze mich an den Schreibtisch, nur um meinem Unwillen Luft zu machen und meine Galle zu verdünnen,« sagte er mir mehr denn zehnmal, und ich glaubte es ihm, weil dies mit seinem ganzen Wesen zusammenhing. Ein höchst charakteristischer Zug von ihm war, daß er, um ungehinderter schreiben zu können, oder, wie er sich auszudrücken pflegte, per poter scemar la bile, seiner Schwester einen sehr wesentlichen Theil seines großen Vermögens abgetreten hatte.

Man hätte glauben sollen, daß die[282] Gräfin Luisa d'Albania und der Graf Vittorio Alfieri mit so entgegengesetzten Eigenschaften sehr wenig für einander vorhanden gewesen wären. Allein, indem die Gräfin mit der unendlichen Liebe, die in ihr war, einen Gegenstand der Hochachtung suchte, mußte der Graf ihr theuer werden; und indem dieser mit seinem gränzenlosen Unwillen gegen das Verderbniß seiner Zeiten doch Etwas lieben wollte, gab es für ihn keinen anderen Gegenstand, als ein Weib von Luisa's Gepräge. Beide bewunderten sich um so mehr, je weniger sie sich begriffen. War der Graf Brutus, so war die Gräfin Portia. Dies Verhältniß wurde zuerst durch unsere Dazwischenkunft abgeändert. Die Herzogin, welche einmal für allemal mit dem männlichen Geschlecht gebrochen hatte, schloß sich enger an Luisen an, weil sie in ihr die eigene Vollendung zu erblicken glaubte. Ich hingegen fühlte mich an Vittorio Alfieri[283] angezogen, unstreitig weil er nach Moritz der einzige Mann war, den ich achten konnte. Mir entging die Schwärmerei nicht, die aus ihm wirkte, und um keinen Preis hätte ich die Seinige werden mögen; allein, da die Phantasie zuletzt das Einzige ist, was ein Weib an einem Mann lieben kann, so huldigte ich in meiner Hinneigung zu dem Grafen, soll ich sagen der Schwäche meines Geschlechtes, oder dem ewigen Gesetz, unter welchem es steht? Übrigens war niemals eine Verbindung unter vier Personen inniger und schuldloser, als die unsrige.

Ich lernte nach und nach den Grafen ganz kennen. Selbst aus seinem besondern Antriebe zum Schreiben machte er mir kein Geheimniß, und es war warlich nicht seine Schuld, wenn ich seinen Tyrannenhaß nicht theilte. Diese Trauerspiele der Freiheit (wie er seine Tragödien nannte), die einander so ähnlich sind, daß sie dem[284] unbefangenen Auge nur als Variationen desselben Thema's erscheinen müssen, hatten alle nur einen und denselben Zweck, nämlich Verunglimpfung der Fürstenmacht. Aus der Emsigkeit und Anstrengung, womit der Graf arbeitete, hätte man schließen sollen, daß ihm die Kunst über Alles theuer wäre; und doch war dies gar nicht der Fall. In ihm ordnete sich der Künstler dem Grafen, oder, wenn man lieber will, dem Aristokraten, auf das allerbestimmteste unter; in der That so sehr, daß er sich selbst verachtet haben würde, wenn er in sich nur den Künstler gesehen hätte. Was ihn unaussprechlich verwundete, war die Unempfindlichkeit seiner Zeitgenossen gegen den Zweck seiner Schöpfungen. Errathen sollten sie ihn und zu einem unendlichen Fürstenhaß hingerissen werden; und da weder das eine noch das andere erfolgte, indem die Zuschauer und Leser nur bei dem tragischen[285] Schicksal seiner Helden verweilend, lieber dem Mitleid als dem Unwillen Raum gaben, so wurde der Graf bisweilen zu einer Verzweifelung getrieben, worin es keinen anderen Trost für ihn gab, als die Idee eines unbegränzten Ruhmes, der seiner in besseren Zeiten harrete. Mit unbeschreiblicher Wollust erfüllte ihn dagegen alles, was die Wahrheit seiner Grundidee auch nur von fernher bestätigte. Die Nordamerikanische Revolution war für ihn eine Erscheinung von unberechenbarer Wirksamkeit für den gesellschaftlichen Zustand von Europa; und so bestimmt sah er durch sie alle Thronen umgestürzt, daß er in einem Washington den Heiland der Welt verehrte. Was ihn zu seiner eigenen Gattung machte, war diese innige Vereinigung des Schönen mit dem Politischen, die sein Wesen so einzig bestimmte. Ob die Idee, von welcher er ausging, probehältig war, oder nicht, das[286] kann und mag ich nicht bestimmen; das weiß ich aber, daß sie in ihm eine philanthropische war. Giebt es für die wahre Größe keinen anderen Maaßstab, als die Ideen, womit ein Individuum sich unablässig beschäftigt; so stand Vittorio Alfieri in einer Größe da, welche die Mehrzahl gigantisch zu nennen gezwungen ist. Und welche Kindlichkeit bei dieser Größe! Eben der Mann, dessen Kopf in politischer Hinsicht einem Vulkan glich, war durchaus unfähig, irgend ein Individuum zu kränken, selbst dann nicht, wenn er es verachten mußte. Er selbst sprach hierüber, als über einen ewigen Widerspruch zwischen seinem Herzen und seinem Kopf, und war nur allzuoft ungewiß, ob er sich für einen Thersites oder Achilles halten sollte; dies rührte aber nur daher, daß er in seinem Unwillen und Haß die Liebe verkannte, welche die Quelle derselben war. In sich selbst war er ein Ganzes, wie die[287] Natur es selten hervorbringt; allein, indem er sich nicht als ein solches erschien, konnte er, anstatt sich seiner Individualität zu freuen, sich nur zerreiben und vor der Zeit zerstören. Bewundernswürdig waren seine Affektionen in Beziehung auf einzelne Zweige der Kunst. Wäre er blos Künstler gewesen, so würde die Kunst für ihn eine einige gewesen seyn; denn er hätte in den Künstlern nur immer die Poeten sehen können. Weil er aber Graf und Künstler zugleich war, so schied er die Poesie von allen übrigen Künsten, und mehrere derselben berührten ihn gar nicht. So waren z.B. Malerei und Bildhauerei durchaus nicht für ihn vorhanden, oder ihm wohl gar verhaßt, weil sie der staatsbürgerlichen Größe dienten. Die Musik hingegen liebte er sehr, ob gleich auch nicht um ihr selbst willen, sondern weil sie ihn in einen Zustand versetzte, worin seine herrschende Stimmung sich in Harmonie[288] auflösete. Überall war der Adel seiner Natur auf eine ganz eigenthümliche Weise mit demjenigen verschwistert, den er seiner Geburt verdankte, und was er am wenigsten ins Reine bringen konnte, war: wie viel von seinem Wesen er sich selbst und wie viel er dem gesellschaftlichen Zustand verdankte? Nichts wollte er dem letzteren zu verdanken haben, und vielleicht hätte er nie eine Tragödie geschrieben, wenn ihm zeitig genug klar geworden wäre, auf welchen Bedingungen seine ganze geistige Natur beruhete, oder, mit anderen Worten, wenn er sich als Aristokraten hätte zur Anschauung bringen können.

Sobald ich den Grafen genauer kennen gelernt hatte, verzieh ich ihm Alles, weil ich in ihm nur den verfehlten Monarchen sah. Ich konnte ihm nicht werden, was die Gräfin d'Albania ihm gewesen war und noch war; dazu fehlte es mir an Einbildungskraft. Allein, indem[289] ich mich zwischen beiden in die Mitte stellte, nahm ich der eisernen Nothwendigkeit, in welcher er dastand, das Lästige, das bis dahin von ihr unzertrennlich gewesen war. Er selbst fühlte sich durch mich nicht wenig erleichtert; und ob er gleich nicht angeben konnte, worin diese Erleichterung bestand, so lag es doch nur allzusehr am Tage, daß er in seinem Wirken durch mich an Freiheit gewonnen hatte. Wir kamen täglich zusammen, bald bei der Gräfin d'Albania, bald bei der Herzogin. Des Grafen Sache war, uns seine Compositionen mitzutheilen. Was er seine Poesie nannte, war freilich sehr wenig für uns vorhanden; allein wir fanden dabei dennoch unsere Rechnung auf eine doppelte Weise. Einmal konnten wir nicht umhin, über das reiche Gemüth eines Mannes zu erstaunen, der, unbekümmert um die gewöhnlichen Hülfsmittel der tragischen Kunst, seinen Personen eine solche innere[290] Stärke gab, daß die Handlung sich mit gleichem Interesse zum Ziele fortbewegte, ohne daß mehr als vier bis fünf Werkzeuge dazu beitrugen; und in der That werden seine Tragödien von dieser Seite immer bewundernswürdig bleiben. Zweitens wurden während der Vorlesung alle die schauerlichen Gefühle in uns geweckt, welche den religiösen so nahe verwandt und doch so wesentlich von ihnen verschieden sind; wir glaubten uns von lauter Gespenstern umgeben, und ich erinnere mich auf das bestimmteste, daß, als der Graf an einem stürmischen Herbstabend seinen Orestes vorlas, die Herzogin sich fest an ihre Freundin anklammerte und starren Blicks auf den Grafen hinschaute, als wollte sie begreifen, wie eine Elektra oder Clytemnestra sich in seinem Gehirn hätte entwickeln können. Dergleichen Vorlesungen endigten sich in der Regel mit einem Streit über die tragische Kunst.[291] Der Graf sprach gern über diesen Gegenstand, weil er nur etwas Vortreffliches liefern wollte; allein da sich, wie ich schon oben bemerkt habe, der Künstler in ihm dem Grafen so wesentlich unterordnete, so war über diesen Punkt kein Einverständniß mit ihm möglich; der eigenthümliche Zweck seiner Tragödien verhinderte die Vortrefflichkeit derselben, ohne daß es möglich war, ihn davon zu überzeugen. Ich hatte schon damals eine Ahnung davon, daß die wahre Tragödie das Gemüth des Zuschauers oder Lesers nicht martern, sondern erheben müsse, und ohne Rückhalt äußerte ich diese Ahnung; allein der Graf war hierüber durchaus entgegengesetzter Meinung, und ob er gleich die Weinerlichkeit von ganzem Herzen verabscheute, so bestand er doch auf Erzeugung eines großen Unwillens, indem er sich einbildete, daß das Gemüth nur durch Gefühle, nicht durch Ideen, erhoben werden[292] könnte. Dies war ein Punkt, auf welchem er standhaft beharrete; und auf welchem er freilich beharren mußte, wenn er nicht seinem ganzen Wesen entsagen wollte. Überhaupt war es mehr die Individualität des Grafen, als seine Kunst, was an ihm beschäftigen konnte. Am reinsten sprach sich diese Individualität in seinen Sonnetten aus, welche vielleicht die schönsten sind, die Italien aufweisen kann. Hätte der Graf den Unterschied der lyrischen und dramatischen Poesie in Beziehung auf seine Natur gekannt, so hätte er es schwerlich jemals darauf angelegt, durch die letztere unsterblich zu werden.

Zwei Jahre waren auf diese Weise verstrichen, als die Herzogin sich nach Rom zu sehnen begann. Die Gräfin d'Albania versprach uns dahin zu begleiten; der Graf Vittorio Alfieri hingegen, welcher seine Mirrha angefangen hatte, wollte sich nach Siena begeben, um seinen republikanischen[293] Ideen in diesem kleinen Freistaat ungehinderter nachhängen zu können. Es wurde die Verabredung genommen, daß der Graf uns, während des nächsten Winters, in Rom auf einen Monat besuchen sollte, und daß wir gegen den nächstfolgenden Winter wieder in Florenz zusammentreffen wollten. Ein florentinischer Maler hatte die Gefälligkeit, uns begleiten zu wollen. Die Reise ging vor sich, wir kamen wohlbehalten in Rom an, und wurden, von der liebenswürdigen Gräfin eingeführt, allenthalben unserem Stande gemäß empfangen.

Obgleich der ausschließende Zweck unseres Aufenthalts in Rom die Kunst und nahmentlich die Malerei war; so konnten wir doch nicht umhin, auch auf die Menschen einzugehen, von welchen wir uns umgeben sahen. Man nennt die Römer schlau und fein; allein man vergißt, daß sie mit diesen Eigenschaften eine Unschuld[294] verbinden, welche erst dann aufhört, wenn eine gewisse Rohheit Forderungen an sie macht, die sie nicht befriedigen können, ohne ihrem Wesen zu entsagen. Einem vielseitig ausgebildeten Menschen muß, allen meinen Erfahrungen zufolge, in Rom sehr wohl zu Muthe seyn, weil er allenthalben auf seines Gleichen stößt. Dem vornehmeren Theil der Römer besonders ist ein Entwickelungsgrad eigen, wie man ihn, außerhalb des Kirchenstaates, schwerlich auf irgend einem Erdfleck antrifft. Je unbestimmter und schwankender die gesellschaftlichen Verhältnisse in Italien, besonders aber im Kirchenstaate, sind, desto stärker ist die Aufforderung, welche jeder Einzelne hat, in diesem Kampfe aller gegen alle seine Existenz zu sichern. Daher die Feinheit, womit man sich gegenseitig behandelt. Schon von der frühesten Jugend an nimmt das Studium menschlicher Kräfte und Eigenthümlichkeiten[295] seinen Anfang; es ist also kein Wunder, wenn man es hierin zu einem hohen Grade der Vollendung bringt. Das Verhältniß der Kirche zum Staate, oder vielmehr das Verhältniß des Mittelpunkts der Theokratie zu der Welt trägt nicht wenig dazu bei, dem Geiste der Römer eine Gewandtheit zu geben, wie man sie sonst nirgend findet; eine Gewandtheit, die, obgleich ursprünglich nur in den ersten Repräsentanten der Kirche vorhanden, von diesen selbst auf die untersten Volksklassen übergeht. Mit Vergnügen erinnere ich mich einer Unterredung mit dem berühmten Cesarotti, der, als von dem Charakter der Römer unter uns die Rede war, mir Folgendes zur Aufhellung desselben sagte:

»Unser ganzes gegenwärtiges Wesen besteht aus drei Elementen, die, wie verschiedenartig sie auch scheinen mögen, den innigsten Zusammenhang unter einander[296] haben. Das erste ist die Messerträgerei; eine Folge des unvollkommenen gesellschaftlichen Zustandes, in welchem wir leben. Das zweite ist unsere Religiosität, welche mit unserer physischen Trägheit in enger Verbindung steht, und durch nichts so sehr gehalten wird, als durch den Umstand, daß von Rom aus aller kirchlicher Impuls geschieht. Das dritte ist unsere Kunst, wodurch wir, abgesehen von der Kraft selbst, welche sie möglich macht, nichts weiter beabsichtigen, als Sicherstellung unserer Eigenthümlichkeit. Man zerstöre eines dieser Elemente in uns, so sind die beiden anderen zugleich zerstört. Auf den ersten Anblick sollte man freilich glauben, daß die Messerträgerei dem hohen Aufschwunge, welcher in das Gebiet der Kunst führet, nicht gerade nothwendig sey. Ich will auch nicht im Allgemeinen behaupten, daß ohne Messerträgerei keine Kunst statt finden[297] könne. Aber etwas anderes ist Kunst überhaupt, und etwas anderes römische Kunst insbesondere. Die letztere kann nur dadurch möglich werden, daß das Gemüth dem Geiste eine Erhebung giebt, wie sie nun einmal erforderlich ist, um das Außerordentliche zu Stande zu bringen. Hätten wir eine regelmäßige, nur für den Kirchenstaat vorhandene Regierung, beschäftigte sich diese Regierung nur mit der Beglückung der Unterthanen, und fände Jeder im Ackerbau, in der Ausübung irgend eines Handwerks, in Fabrikarbeit und dergleichen, was zur Leibesnahrung und Nothdurft gehört; so wären wir gewiß eben so moralisirt, als die Bürger anderer Staaten. Da wir keine solche Regierung haben, und auch alle übrige Bedingungen geradezu wegfallen; so sind wir nicht moralisirt, aber wir sind Römer, und, was man auch zu unserem Nachtheil im Auslande sagen mag, unseren großen Vorfahren[298] bei weitem mehr verwandt, als die Kurzsichtigkeit es begreifen kann. Was unsere Vorfahren durch eine mit physischer Gewalt verbundene List vollzogen, das vollziehen wir durch die reine List. Die römische Universalmonarchie hat deshalb noch nicht aufgehört, weil es keine römische Imperatoren mehr giebt; die Bande, durch welche die Welt an Rom gefesselt ist, sind nur geistiger geworden. Wollen Sie leugnen, daß dies große Eigenschaften von Seiten der Römer voraussetze? Der würde ein Thor seyn, der unseren gesellschaftlichen Zustand als Muster empfehlen wollte; wer ihm aber alle Kraft abspricht, der versündigt sich an der Wahrheit. Das staatsbürgerliche Elend, das hier vielleicht größer ist, als in irgend einem anderen europäischen Staate, muß vorhanden seyn, damit es einzelnen Menschen gelinge, über die ganze Menschheit hervorzuragen. Das Wesen eines[299] Römers ist auf ein ungemeines Maaß von Kraft berechnet. Wer im Besitze desselben ist, der emergirt, und muß als ein Repräsentant der Römerheit betrachtet werden; wer es nicht ist – nun der gehört zum Pöbel, zu den Lastträgern der Gesellschaft. Von einem höheren Standpunkt aus betrachtet, ist die Kraft immer dieselbe, und der Unterschied besteht nur in der temporellen Richtung, die sie genommen hat. Dasselbe Individuum, daß Sie heute als Bildhauer oder Maler in seiner Werkstätte bewundern, ist vielleicht nach acht Tagen ein Cardinal, und als solcher nicht minder bewundernswerth. Jene Universalität, welche zu jedem ausgezeichneten Lebensgeschäft geschickt macht, finden Sie nur in dem Römer; und man möchte sagen, sie sey ihm angeboren, so bestimmt geht sie aus seinem ganzen Wesen hervor. Anderwärts zerquetschen staatsbürgerliche Klemmen tausend und aber tausend Kräfte;[300] hier ist dies nicht der Fall, weil die Idee des Rechts uns fremd ist, und wir gewissermaßen fortgesetzt im Zustande der Natur leben. Wer dem anderen ein Bein unterschlagen kann, hat auch die Befugniß dazu, und niemand frägt, ob er ungroßmüthig gehandelt habe. Jeder will der Erste seyn; jeder sich zum Mittelpunkt machen. Er thue es auf seine Gefahr; gelingen kann es ihm immer nur in sofern, als er allen Übrigen zusammengenommen gewachsen ist. Möglich, daß unser Wesen in der Folgezeit sehr bedeutend abgeändert wird; aber so lange Rom das Centrum der Theokratie bleibt, wird es auch Römer geben, und überall begreife ich nicht, was den Römer aus der Welt verbannen könnte, da sein Wesen nicht an eine einzelne Form gebunden, sondern immer in der Kraft gegründet ist. Es ist vielleicht sogar wünschenswerth, daß irgend eine Revolution erfolge, die[301] uns aus dem Schwerpunkt hebe, worin wir gegenwärtig stehen. Ich fürchte sie nicht, und überlasse es kurzsichtigen Thoren ihren Eintritt zu bejammern. Die Stützen meines Muthes sind diese sieben unfruchtbaren Hügel, welche so viele Jahrhunderte hindurch unendlich mehr stützten.«

Ich habe hier alles zusammengefaßt, was ich über die Römer zu bemerken hatte, damit ich ungestörter in meiner Erzählung fortschreiten möchte. Sowohl die Herzogin als die Gräfin d'Albania wurden sehr wenig von den Menschen um sie her berührt; die erstere, weil sie nur nach der Weihe strebte, welche die Kunst verleiht, die letztere, weil sie sich durch den Umgang in dem Fluge gehemmt fühlte, den ihre Einbildungskraft zum Universum genommen hatte. Fleißig wurden die Tempel der Kunst besucht, deren Rom so viele hat; aber verschieden waren die Eindrücke,[302] welche die Schöpfungen der auserlesensten Geister auf uns machten. Die Gräfin d'Albania begrüßte sie als Jugendgespielen, an welche wir uns selbst dann noch hingezogen fühlen, wenn wir in unserer Entwickelung weit über sie hinausgegangen sind; sie war seit vielen Jahren mit ihnen vertraut, da sie aber ihrer Bildung zum Grunde lagen, so konnten sie nicht mehr in dieselbe eingreifen. Die Herzogin trat in die Sixtinische Capelle, in welche wir zuerst geführt wurden, mit der holden Verwirrung einer Jungfrau, die sich plötzlich in einen Kreis wunderschöner Jünglinge versetzt sieht; erröthend starrte sie hin auf die dem Pinsel entquollenen Gestalten, als ob alle diese Bilder von jeher in ihrer Seele gelegen hätten, ohne daß ihr die Kraft geworden, sie selbst zu erzeugen. Was mich selbst betrifft, so empfand ich zwar das Außerordentliche dieser Schöpfungen; allein sie übten keine[303] anziehende Kraft an mir aus, es sey nun, weil der Verstand in mir den Ausschlag über die Einbildungskraft gab, oder weil Vittorio Alfieri's Geist stärker auf mich eingewirkt hatte, als ich mir selbst gestehen mochte; wenigstens muß ich bekennen, daß ich mich oft instinktmäßig nach ihm umsah, um sein Urtheil zu erfahren.

Diese verschiedene Empfänglichkeit für die Wunder der Kunst führte zu eigenthümlichen Entwickelungen. Während die Gräfin darüber hinaus war, und ich dahinter zurückblieb, ging die Herzogin darin unter. Eine längere Zeit hindurch schwankte sie zwischen verschiedenen Meistern hin und her; ihr Zustand konnte eine ästhetische Betäubung genannt werden, so wie die Allgewalt des Schönen ihn erzeugen muß. Als sie sich aber nach und nach wieder sammelte und mit Bewußtseyn zu empfinden begann, da erklärte sie sich mit allem, was in ihr war, für Raphael. Nie[304] hat eine reinere Seele diesem unsterblichen Meister feuriger gehuldigt. Sie wurde nicht müde, seine Werke zu betrachten, und seine Schöpfungen verdrängten aus ihr alle anderen Bilder, von welcher Art sie auch seyn mochten. Hab' ich sie anders gehörig beobachtet, so fühlte sie sich allzuschwach, die Individualität der Gräfin in sich aufzunehmen; aber Raphaels Begränzung entsprach der ihrigen. Ihn begriff sie in allen seinen Bildungen, und wunderbar waren die Commentare, die sie darüber machte. Sie wußte z.B. alle Widersprüche zu lösen, welche einzelne Kritiker in Raphaels Verklärung anzutreffen geglaubt haben, und nannte dies Werk die Apotheose des Künstlers. Denn ihrer Versicherung nach, waren die beiden Handlungen, die man in diesem Gemälde erblickt, aufs innigste für einander vorhanden, und das Wunder der Verklärung nur durch die fehlgeschlagene Heilung des[305] besessenen Knaben bedeutend und idealisch. Dabei rühmte sie die tiefe Menschenkenntniß, welche Raphael dadurch offenbaret, daß er den schönsten der Apostel in einer Unterredung mit Weibern, die übrigen im Gespräch mit Männern dargestellt habe; und was die in gleicher Linie laufenden Arme der Apostel betrifft, so behauptete sie, daß, die kunstgerechte Anordnung möchte sich noch so heftig dagegen erklären, die Symmetrie der Composition sie nothwendig mache. Um übrigens immer von Raphael umgeben zu seyn, setzte sie sich in den Besitz der besten Copien, vorzüglich in Kupferstichen; und so konnte es schwerlich fehlen, daß dieser Künstler nach und nach der einzige Gegenstand ihrer Liebe wurde.

Es ist unstreitig schon öfter der Fall gewesen, daß ein hingeschiedener Geist einen noch vorhandenen einzig beschäftigt hat; allein schwerlich ist dies jemals auf[306] eine so eigenthümliche Weise geschehen, als in der Liebe der Herzogin für Raphael. So weit eine rein geistige Ehe denkbar ist, vermählte sie sich auf das förmlichste mit ihm. Es war zuletzt nicht der Künstler, es war der Mann, den sie in ihm erblickte, die schaffende Kraft, die sie in ihm anbetete. Die Folgen fürchtend, welche eine so eigenthümliche Wendung ihres Geistes nach sich ziehen konnte, suchte man ihren Enthusiasmus dadurch zu vermindern, daß man ihr Anekdoten von Raphaels Liederlichkeit erzählte. Vergeblich; so keusch sie auch war, so wurde sie dadurch doch nicht beleidigt. »Wie konnte, erwiederte sie, Raphael anders seyn? Was ihr Liederlichkeit nennt, war bei ihm die Folge einer üppigen Fülle. Zugegeben, daß er länger gelebt hätte, wenn er haushälterischer mit seinen Kräften umgegangen wäre, entsteht noch immer die Frage, ob diese Ökonomie ihm[307] möglich war? Und hat er etwa weniger gelebt, weil er im sechs und dreißigsten Jahre gestorben ist? Seine Schöpfungen sagen, daß er viel gelebt hat, und was wir ihm alle beneiden sollten, ist, daß er die Kraftlosigkeit und Erschöpfung des Alters nie empfand, sondern wie Achilles zu den Unsterblichen gewandert ist. Sagt mir, Raphael sey siebzig Jahre alt geworden, weil er durchaus verständig gewesen sey, und ihr werdet euren Zweck erreichen. Was ihr seine Liederlichkeit nennt, redet ihm bei mir das Wort; denn wer das Schöne so darstellt, wie Raphael es dargestellt hat, der kann nur das Schöne lieben und – nur in dem Schönen untergehn.«

Und indem die Herzogin auf diese Weise ihrer Leidenschaft für Raphael das Wort redete, verzehrte die innere Gluth, womit sie empfand, ihre physischen Kräfte zusehends. Es war ein eigenthümliches[308] Schauspiel, das der Gräfin und mir in dieser Hinsicht gewährt wurde; denn wir sahen eine Verklärung von statten gehen, wie man sie selten erlebt. Ohne daß irgend ein Lebensorgan angegriffen war, wurde die Herzogin nach und nach zu einem Schemen. Alles, was Kraft genannt werden kann, blitzte aus ihren großen blauen Augen und sprach von ihren Lippen; aber andere Kennzeichen des Lebens waren nicht in ihr vorhanden. Sie selbst hatte keine Ahnung von ihrem nahen Hintritt, und sprach zu uns nur immer von ihrer Liebe; Ort und Zeit aber war darin untergegangen. In uns erstickte eine gewisse Feierlichkeit alle die gewöhnlichen Gefühle des Mitleides, des Bedauerns u.s.w. Immer mußte es uns schmerzen, eine solche Freundin zu verlieren; aber wie hätten wir sie beklagen können, da sie nur in einem Übermaaß von innerem Leben ihren Untergang finden konnte?[309] Noch ruhiger, als ich, war die Gräfin d'Albania. Sobald sie wahrgenommen hatte, daß der Herzogin nicht mehr zu helfen sey, versetzte sie sich in diejenige Stimmung, wodurch sie dem hohen Flug ihrer Phantasie innerhalb des Gebietes der Kunst nachhalf. Wirklich wurden die letzten Augenblicke der Herzogin dadurch nicht nur aufgeheitert, sondern auch verlängert, und der Ankunft des Grafen Vittorio Alfieri war es aufbehalten, den kritischen Moment herbeizuführen.

Er hatte seine Myrrha vollendet, als er bei uns ankam. Seiner eigenen Vorstellung nach war dies von allem, was er je gearbeitet hatte, das Beste. Er brannte vor Begierde, diese Tragödie vorzulesen, weil er es darin ausschließend auf eine Huldigung der Gräfin angelegt hatte. Meinen Wünschen nach sollte die Herzogin entfernt werden; aber dazu war keine Gelegenheit. Die Vorlesung nahm ihren[310] Anfang, sobald es dunkel geworden war. Wir saßen dem Vorleser gegenüber. Die Herzogin theilte unsere Spannung nicht, wiewohl sie nicht ganz unaufmerksam war. So wie indessen der Charakter der Myrrha, in welchem des Heldenmüthigen genug, des Weiblichen aber nur allzuwenig ist, sich mehr entwickelte, nahm die Unruhe der Herzogin zu. Beim vierten Akt sank sie ganz unerwartet in die Arme der Gräfin. Wir vermutheten nichts weniger als plötzlichen Tod; allein ihre Augen erhielten die Richtung der Verklärten, und zwei Zuckungen, welche unmittelbar darauf erfolgten, vollendeten den Hintritt.

Hatte Alfieri's Vorlesung die Herzogin getödtet, so war Alfieri dabei ganz unschuldig. Es giebt Krankheiten, in welchen ein kaltes Lüftchen die Kraft hat, die leidende Maschine einmal für allemal zu zerrütten. Eine ähnliche Bewandniß mußte es mit dem Zustande der Herzogin[311] haben. Die Gräfin, wie tief sie auch von dem Tode unserer gemeinschaftlichen Freundin verwundet war, behielt ihre ganze Klarheit und vergoß daher keine Thräne. Was mich betrifft, so gesteh' ich, daß die Plötzlichkeit des Todesfalles verwirrend auf mich zurückwirkte, und das Gefühl der Ohnmacht so bestimmt in mir aufregte, daß ich weinen mußte, um mir wieder klar zu werden. Unendlich mehr, als ich, war der Graf Vittorio ergriffen; die Kindlichkeit seines Gemüthes zeigte sich bei dieser Gelegenheit in ihrer ganzen Stärke. Er, der in seinen Trauerspielen den Tod so oft vorbereitet hatte, daß man hätte glauben sollen, er sey in der Wissenschaft der Gesetze, nach welchen der Tod erfolgen muß, abgehärtet worden – er ertrug den vorliegenden Fall so ungeduldig, als ob er unter uns das einzige Weib gewesen wäre. So wenig hatte er das Wesen der Herzogin ergründet, daß[312] er darauf bestand, sie lebe noch, und durch diese kühne Behauptung uns in die Nothwendigkeit setzte, die geschicktesten Ärzte herbei zu rufen. Überflüssige Maaßregel! Sie, die kein Arzt hätte retten können, weil ihre Krankheit über alle Hülfe hinaus war, wurde von den Ärzten für vollkommen todt erklärt, und wohl hatte die Gräfin Recht, wenn sie sagte: »Wie konnte sie noch länger leben, da sie am Ziele war?« Auch bin ich überzeugt, daß die Herzogin, wenigstens in den letzten Tagen ihres Daseyns, eine Ahnung von dem nahen Aufhören desselben hatte; denn, obgleich ihre ehemaligen Verhältnisse mit ihrem Gemahl ganz in ihrer Erinnerung untergegangen waren, so gedachte sie doch noch des Sohnes, dem sie das Leben geschenkt hatte, und schmeichelnd bat sie mich, Erkundigungen von seinem Befinden einzuziehen. Dies würde nicht geschehen seyn, hätte sie nicht die Abnahme[313] ihrer physischen Kräfte gefühlt, und hätte dies Gefühl sie nicht getrieben, der Mütterlichkeit den letzten Tribut zu bringen; denn es ist nun doch einmal die Mutter, die in einem vollendeten Weibe zuletzt stirbt.

Von der Leichenbestattung der Herzogin kein Wort, so glänzend sie auch war, da die Fürstin für eine gute Catholikin ausgegeben wurde, und die römische Geistlichkeit keine Ursache fand, diese Unwahrheit zu bestreiten. Ihr Tod wirkte vorzüglich in sofern auf mich zurück, als er das Verhältniß zerriß, in welchem ich bisher mit Vittorio Alfieri gestanden hatte. Nicht daß ich ihm nicht theuer geblieben wäre; ich blieb ihm alles, was ich ihm jemals gewesen war. Allein die Gräfin war der Zeit nach seine erste Liebe, und mußte es auch dem Range nach bleiben, weil die Unendlichkeit, die in ihr war, durch kein anderes Weib ersetzt werden[314] konnte. Auch die Gräfin ihrer Seits fühlte sich wieder an Vittorio angezogen, da die Herzogin nicht mehr war. Ich stand von nun an zwischen beiden in der Mitte, gleichsam als Dolmetsch ihres gegenseitigen Interesses. Sie baten mich, mit ihnen nach Florenz zurück zu gehen, und ich that es in Ermangelung eines besseren Schicksals. Mehrere Jahre blieb ich bei ihnen, und war ein Zeuge von Alfieri's steigender Verwirrung und Luisa's wachsender Klarheit. In diesem Zeitraume verheirathete ich meine Pflegetochter mit dem Professor D..., einem Deutschen, dessen Bekanntschaft ich in Rom gemacht hatte, wo er jene lieb gewann und nicht eher rastete, als bis ich ihm erlaubte, sie zu ehelichen und mit nach Deutschland zurück zu nehmen.

Der Prätendent von England war indeß gestorben und bald darauf die französische Revolution ausgebrochen. Die Felsenmasse[315] die bisher auf Vittorio Alfieri's Brust gelegen hatte, wurde durch diese beiden Ereignisse versprengt; denn das erstere erfüllte alle die Wünsche, die er in Beziehung auf die Gräfin unterhalten hatte, und durch das letztere glaubte er alle seine politischen Ideale der Realisirung nahe. Den Cothurn von sich schleudernd, faßte er den Entschluß, nach Frankreich zu gehen und ein Bürger der neuen Republik zu werden. Die Gräfin d'Albania war leicht beredet, ihm dahin zu folgen; denn von allen gleichgültigen Dingen war der Ort ihrer Existenz ihr das gleichgültigste. Auch ich sollte mit nach Frankreich gehen; da mir aber die Franzosen noch immer zuwider waren, und alles, was ich jetzt noch lieben konnte, sich in Deutschland befand, so entschuldigte ich mich so gut, als möglich, indem ich versprach, daß ich erst eine Reise in mein Vaterland machen und alsdann meine Freunde in Paris aufsuchen[316] wollte. Beide gingen über Turin nach Lyon, von wo aus sie ihre Wallfahrt nach der Hauptstadt des Reiches fortsetzten. Ich begab mich in die pisanischen Bäder, um daselbst neue Bekanntschaften anzuknüpfen, und mit diesen nach Deutschland zurück zu gehen. Hier war es, wo ich meine Eugenia zuerst kennen lernte. Ehe ich aber in meiner eigenen Geschichte fortfahre, muß ich noch einen Blick auf die Gräfin d'Albania und den Grafen Vittorio Alfieri werfen.

Nur Weniges hab' ich seit meiner Trennung von beiden erfahren. Die erstere kehrte nach Italien zurück, sobald die Revolution eine blutige Wendung genommen hatte. Der letztere blieb in Paris, bis alle seine Erwartungen getäuscht waren. In einer feurigen Ode besang er die Zerstörung der Bastille; in einer noch feurigern den Umsturz des Thrones. Als aber der Schrecken eintrat, da siegte[317] seine Menschlichkeit über alle seine Ideale. So groß wurde sein Abscheu vor allem, was um ihn her vorging, daß er sich mehr, als jemals, in der Einsamkeit begrub. Sich zu zerstreuen, lernte er Griechisch, und hätte ein Künstler aus ihm werden können, so würde es unter diesen Umständen geschehen seyn. Doch die heitere Region der Kunst sollte ihm ewig verschlossen bleiben. Anstatt sich von den Schlacken der Aristokratie zu reinigen, wurde er trübsinnig und schwermüthig; und wie konnte dies ausbleiben, da von allem, was er geahnet hatte, das Gegentheil erfolgte und sein ganzes System über den Haufen geworfen wurde? Nach einem achtjährigen Aufenthalte in Frankreich kehrte er nach Florenz zurück, wo die Gräfin d'Albania unterdessen gestorben war. Hier lebte er seitdem zerbrochenen Herzens als ein von seinen Idealen Verlassener. Hat er nicht selbst die Dauer[318] seines Lebens abgekürzet, so ist er wenigstens nicht ungern gestorben. Wenige Menschen haben im Kampfe mit sich selbst mehr gelitten. In einem Sonnet, das ich sorgfältig aufbewahre, weil er es zu einer Zeit machte, wo er mit sich selbst höchst unzufrieden war, redet er sich also an:


Uom, sei tu grande, o vil?


Und seine Antwort ist:


Muori; il saprai.


Aber der unglückliche Mann ist nie hinter das Geheimniß gekommen, das ihn einzig beschäftigte; denn nie konnte er seiner Verwirrung Meister werden; sie mußte ihn tödten. Ich habe oft gedacht, daß Alfieri in jenen Zeiten, wo das Feudalwesen in seiner Blüthe dastand, ein herrlicher, hoch hervorragender Mann gewesen seyn würde. Nicht die Feder, sondern Lanze und Schwert waren ihm, allen seinen Anlagen nach, vom Schicksal[319] beschieden; sein großes Unglück war daß seine Existenz in Zeiten fiel, wo sich von beiden kein Gebrauch mehr machen läßt. Sanft ruhe seine Asche; sie ruhe um so sanfter, weil alle Stürme, die sein Daseyn zerrütteten, innere Stürme waren, deren Wuth sich nicht beschwichtigen ließ. Selbst Bonaparten, der das Problem der französischen Revolution so vollständig gelöset hat, mußte Alfieri hassen, weil er nicht an seiner Stelle war.

Gleich bei der ersten Bekanntschaft fühlte ich mich unwiderstehlich an Eugenien angezogen. Es war ihre Physiognomie, was mir die Versicherung gab, daß wir Freundinnen werden könnten; und da dieser Bürge sich in diesem, wie in jedem anderen Falle, bewährt hat, so so seh' ich mich genöthigt, hier einen Theil meines Systemes in Ansehung freundschaftlicher Verbindungen zu enthüllen. Ich werde von der einen Seite sehr viel Mühe[320] haben, mich deutlich zu machen, und von der andern, gegen alle meine Neigungen, zu einer (wenn gleich kurzen) Dissertation über das Verhältniß der Physiognomie zur Freundschaft hingerissen werden. Allein ich muß mich jener Beschwerde und diesem Übelstande unterwerfen, wofern meine Bekenntnisse nur einigermaßen vollständig ausfallen sollen.

Eine längere Zeit hindurch folgte ich in freundschaftlichen Verbindungen einem gewissen Instinkte, welcher mir sagte, daß mit diesen oder jenen Personen ein gutes Verhältniß für mich möglich oder unmöglich sey, weil ihre Physiognomie irgend eine Wendung hatte, die mich anzog oder zurückschreckte. Das Wunderbare hierbei war, daß sich, bei genauerer Bekanntschaft mit eben diesen Personen, beständig fand, daß die Aussage meines Instinktes eine sehr zuverlässige gewesen war. Eben deswegen wünschte ich alles Dunkle aus diesem[321] Instinkte zu verbannen. Allein wie das, was bisher bloßes Gefühl, und zwar ein sehr verworrenes Gefühl, gewesen war, in eine Formel verwandeln, die ich auf jede mir vorkommende neue Physiognomie anwenden könnte?

Daß die Physiognomie selbst nur etwas Symbolisches sey, leuchtete mir sehr bald ein. Eben so begriff ich ohne Mühe, daß sie als etwas Symbolisches nur auf das Gefühl wirken könnte. Wollte ich nun das Gefühl in Idee und den Instinkt in haltbare Formel verwandeln, so blieb mir nichts anderes übrig, als das Symbolische aus der Physiognomie fortzuschaffen, und, wo möglich, in ihr den inneren Zustand des einzelnen Menschen, dessen bloßer Typus sie war, zu erkennen und zu begreifen. Ich sagte mir selbst, daß dies nur auf dem Wege einer sehr genauen Analyse aller meiner Erfahrungen über einzelne Menschen geschehen könnte.[322]

Indem ich nun über diesem Gedanken rastlos brütete, gelangte ich dahin, zwei Grundkräfte im Menschen zu unterscheiden, die eine durch Gemüth, die andere durch Geist zu bezeichnen, und die letzte Bestimmung jedes menschlichen Individuums in die Harmonie dieser beiden Grundkräfte zu setzen. Die Menschen unterschieden sich demnach sehr wesentlich von einander, je nachdem sie mehr Gemüth, oder mehr Geist, oder Gemüth und Geist in Harmonie gesetzt, waren. Da, wo das Gemüth den Ausschlag gab, mußte ein rastloses Streben nach freundschaftlichen Verbindungen statt finden; allein, da in dem Gemüthe keine regulirende Kraft enthalten ist, so konnten die Gemüthreichen weder diskrete, noch standhafte und zuverlässige Freunde werden; sie mußten, vermöge ihrer ganzen Eigenthümlichkeit, immer zu unerfüllbaren Ansprüchen aufsteigen, und sich und ihre[323] Freunde dadurch um den Genuß der eigentlichen Freundschaft bringen; es waren, um alles mit einem Worte zu sagen, nur Passaden in der Freundschaft mit ihnen möglich. Da, wo der Geist den Ausschlag gab, war an gar keine freundschaftliche Verbindung zu denken; denn der Geist ist sich unter allen Umständen selbst genug, und, von dem Gemüthe getrennt, mehr eine umherschweifende, als regulirende Kraft. Nur da, wo Gemüth und Geist in Harmonie gesetzt sind, war eigentliche Freundschaft möglich, wiewohl nur immer unter der Bedingung, daß zwei gleichartige Wesen zusammen trafen; denn das bloße Gemüth des Freundes würde eben so zerstörend auf die Harmonie zurück gewirkt haben, als der bloße Geist desselben.

Mit diesen Grundbegriffen war ich im Stande, mir alle physiognomische Räthsel zu lösen. Die Idee festhaltend, daß die[324] Physiognomie immer nur etwas Symbolisches oder Typisches sey, sagte ich zu mir selbst: »Da, wo das Gemüth vorherrscht, muß die Physiognomie unregelmäßig und verworren seyn; aus keinem anderen Grunde, als weil es an der regulirenden Kraft gebricht, welche einen bestimmten Charakter wirkt. Da, wo der Geist, vom Gemüthe verlassen, wild umherschweift, wird freilich keine Unregelmäßigkeit und Verworrenheit sichtbar werden, allein der Physiognomie wird es an allem Adel fehlen, und ihre anziehende Kraft gänzlich vernichtet seyn. Nur da, wo Gemüth und Geist in Harmonie stehen, wird man im Antlitz des Menschen das Siegel seiner Oberherrlichkeit entdecken; und was auch der Zufall thun mag, ein solches Meisterstück der plastischen Natur zu verunstalten, so wird es ihm doch nie gelingen, den Charakter desselben aufzuheben, weil dieser auf etwas Innerem[325] beruhet, das über allem Zufall erhaben ist.«

Man urtheile über dies Räsonnement, wie man wolle, für mich ist es so hinreichend, daß ich aufrichtig bekenne, es vertrete bei mir die Stelle mathematischer Evidenz. Nie hat es mich irre geleitet, und eine große Menge von Erscheinungen hab' ich mir nur auf diesem Wege erklären können.

Dahin gehört, daß eben die Nation, der wir das schöne Ideal verdanken, für die Freundschaft so ausschließend vorhanden war, daß sie mit einem besonderen Sinne dafür ausgestattet schien. Allerdings hatte sie diesen besonderen Sinn; aber er lag in der Harmonie des Gemüths und des Geistes, welche den Griechen eigen und unstreitig das Resultat ihrer gesellschaftlichen Institutionen war. Dieselbe Harmonie aber, wodurch sie der wahren Freundschaft empfänglich wurden,[326] wirkte auf ihre Gesichtsbildung und auf ihren ganzen Körperbau so zurück, daß sie vorzugsweise in den Besitz der physischen Schönheit kommen mußten, und einer ihrer Philosophen vollkommen berechtigt wurde, zu behaupten: »Eine schöne Seele könne nur in einem schönen Körper wohnen.«

Wie verschieden von der griechischen Physiognomie ist die italiänische und die französische! In der ersteren lauter Carrikatur, wenn gleich nicht selten erhabene und höchst interessante Carrikatur; meiner Theorie nach, aus keiner anderen Ursache, als weil in dem Italiäner, von alten Zeiten her, das Gemüth den Ausschlag gegeben hat. In der letzteren bei weitem weniger Carrikatur, aber zugleich auch beinahe gar keine Spur von Erhebung und innerer Größe, weil in dem Franzosen das Gemüth dem Geiste weicht, und dieser, von dem Gemüthe verlassen, sich[327] immer nur in witzigen Combinationen, nie in großen, viel umfassenden Ideen offenbaret. Vermöge dieses wesentlichen Unterschiedes ist der Italiäner für die Freundschaft unendlich empfänglicher, als der Franzose; nur daß jener durch die Heftigkeit seines Gemüthes sie unaufhörlich zerstört, während dieser sie zu einem Spielwerk macht, worüber der Muthwille schaltet. Die edelste französische Physiognomie, welche mir jemals vorgekommen ist, hat Racine, so wie er von den Künstlern gewöhnlich dargestellt wird. Auch bin ich vollkommen überzeugt, daß dieser Mann der wahren Freundschaft fähig war. Wäre ich seine Zeitgenossin gewesen, so würde ich mich mit ihm verbunden haben, hätte ihn gleich die ganze Welt treulos und falsch genannt; er konnte es nicht seyn, sobald er einen Gegenstand antraf, an welchem sich die Harmonie seines Gemüthes und Geistes, wovon seine Physiognomie[328] immer nur das Symbol war, offenbaren konnte.

Um bei diesem Gegenstande nicht allzulange zu verweilen, will ich nur noch eine artistische Bemerkung machen, die mir von einiger Bedeutung scheint. Sie besteht darin, daß der Streit, ob die Schönheit oder der Charakter der eigentliche Vorwurf der schönen Kunst sey? ein sehr unnützer Streit ist, weil es, nach allem bisher Gesagten, am Tage liegt, daß die Schönheit als etwas Sichtbares, nur immer das Resultat einer inneren Harmonie ist, die in sich selbst einen Charakter bildet, und zwar den höchsten, den es geben kann. Der Charakter ist also eben so sehr ein Vorwurf der schönen Kunst, als die Schönheit, oder vielmehr, beide sind in Beziehung auf die schöne Kunst eins und dasselbe, so daß der Künstler nie etwas anderes thut, als das Symbol der inneren Harmonie zwischen Gemüth und[329] Geist darstellen. Das Ideal des Schönen wäre demnach nichts weiter, als der Abdruck dessen, was von der inneren Harmonie äußerlich sichtbar wird, und daber versteht sich ganz von selbst, daß jeder Charakter, dessen Wesen nicht mehr auf innerer Harmonie beruht, aufhört, ein Vorwurf der schönen Kunst zu seyn; denn sonst würde Carrikatur und Häßlichkeit mit Harmonie und Schönheit einerlei werden müssen.

Genug von meiner Lebensphilosophie und meinem Kunsttakt. Es kam blos darauf an, begreiflich zu machen, wie ich mich für Eugenien so lebhaft interessiren konnte, ohne sie jemals gesehen oder von ihr gehört zu haben. Die anziehende Kraft, die sie an mir ausübte, brachte uns sehr bald näher; und ich glaube mit Wahrheit behaupten zu können, daß wir Freundinnen waren, ehe wir uns dem Namen nach kannten. Erst am dritten Tage[330] unserer Bekanntschaft entdeckte sichs, daß wir beide geborne Deutsche waren; denn bis dahin hatten wir nur Französisch gesprochen, und uns in dieser Sprache über jedes höhere Interesse, das Menschen an einander kettet, einverständigt. War es mir angenehm, in Eugenien ein Weib kennen zu lernen, dem ich mich aufschließen konnte; so war die Freude Eugeniens über diese Entdeckung in Beziehung auf mich nicht geringer. Ob ich gleich um mehrere Jahre älter war, als meine neue Freundin; so verschwand doch der Unterschied des Alters vor unseren Augen. Was unserer Verbindung eine so plötzliche Innigkeit gab, daß wir von dem ersten Momente unserer Bekanntschaft an unzertrennlich waren, ist etwas, das sich nur dann wird sagen lassen, wenn die menschliche Sprache einen weit höheren Grad von innerer Vollkommenheit erreicht haben wird. Genug, daß das Interesse,[331] welches wir an einander fanden, von dem gewöhnlichen wesentlich verschieden war. Wären wir Männer gewesen, so würden wir uns gegenseitig achten gelernt haben; in dieser Achtung aber hätte unser Verhältniß seinen höchsten Charakter gefunden. Da wir Weiber waren, so mußte zu der Achtung sich noch die Liebe gesellen und unsere Freundschaft um so vollkommner werden. Denn für den Mann, der, es sey durch welches Talent es wolle, immer seinen Stützpunkt in der ganzen Gesellschaft hat, ist die Freundschaft mehr Luxus als Bedürfniß, während sie für ein Weib, das in der ganzen Gesellschaft nie einen Stützpunkt haben soll, ein um so stärkeres Bedürfniß ist, wenn das Weib auch der männlichen Unterstützung ermangelt. Freundschaft unter Weibern ist nur darum so selten, weil sie in der Regel in der Geschlechtsliebe untergeht; ein Fall, in welchem sich keine von uns beiden befand.[332]

Wenn Personen sich einander mit Vertrauen nähern, so ist das Erste, daß sie sich gegenseitig ihre Geschichte erzählen; und ob dies gleich in der Regel sehr absichtslos geschieht, so offenbart sich doch auch hierin das Eigenthümliche der menschlichen Natur, die, weil sie nicht auf einmal wird, was sie werden kann, über sich selbst nur dadurch Aufschluß zu geben vermag, daß sie aussagt, wie sie allmählig zu Stande gebracht worden ist. Auch zwischen Eugenien und mir fand diese Art von Mittheilung statt, und Eugeniens Entwickelungsgeschichte war im Wesentlichen folgende:

Mit großer Sorgfalt erzogen, hatte sie sich in einem Alter von siebzehn Jahren durch ihre Mutter bereden lassen, einem funfzigjährigen Manne, der sich in ihre Unschuld verliebte, ihre Hand zu geben. »Auch mein Herz,« fügte sie hinzu, »würd' ich hingegeben haben, wenn[333] dies von meinem Willen abgehangen hätte. Nicht als hätte ich einen Anderen geliebt; denn in einem solchen Falle würde keine Macht der Welt im Stande gewesen seyn, mir eine meinen Neigungen entgegen strebende Richtung zu ertheilen. Sondern weil der Unterschied der Jahre ins Mittel trat, und ich an meinem Manne nicht lieben konnte, was er an mir liebte. Dies verschlug indessen für die Solidität unsers Verhältnisses sehr wenig. Da mein Mann in jedem Betracht achtungswürdig war, so fand er meine ganze Hochachtung; und in so weit die Liebe durch diese ersetzt werden kann, hat er gewiß nie das Mindeste entbehrt. Etwas Eigenthümliches an ihm war, daß er nicht aufhörte, sich über meine Kälte zu beklagen; allein diese Klage berührte mich sehr wenig von dem Augenblick an, wo ich einsah, daß das, was er meine Kälte nannte, seiner Wärme sehr nothwendig war, und wo ich mich[334] über unser Verhältniß hinlänglich orientirt hatte, um zu wissen, was sich daraus machen ließe, und was nicht. Im Grunde war es auch nur eine Art von Laune, welche meinem Manne diese Klagen eingab; denn im Ganzen genommen lebten wir zufrieden und vergnügt, bis der Moment eintrat, der uns für immer trennen sollte. Dies geschah, nachdem wir eilf Jahre zusammen verlebt hatten. War es nun die Überzeugung, daß ich nie an einen anderen Mann gerathen könnte, der mich aufrichtiger liebte, als er, oder lag seiner Forderung irgend eine andere moralische oder religiöse Idee zum Grunde, die mir nicht ganz deutlich geworden ist – genug mein Mann verlangte auf seinem Sterbebette, daß ich mich nie wieder vermählen sollte; und sobald ich ihm mein Wort gegeben hatte, band er an die gewissenhafte Erfüllung desselben den Besitz seines ganzen Vermögens, von welchem[335] mir nur ein bedeutender Theil werden konnte, wenn die Ansprüche einiger Verwandten in Betrachtung gezogen wurden. Nach seinem Tode entstand die Frage, ob ich verbunden sey, mein Versprechen zu halten. Die Jurisprudenz sprach mich davon los, weil die ganze Sache meinem Gewissen überlassen war; da ich aber mein Versprechen nicht aus Eigennutz gegeben hatte, und in mir selbst auch nicht die allermindeste Versuchung wahrnahm, über die freiwillig gesetzte Schranke hinauszugehen, so mochten mich meine Verwandten noch so sehr für den einen oder den andern Bewerber interessiren, ich blieb meinem Vorsatz, Wittwe zu seyn, nicht minder getreu. Einmal sagte ich zu mir selbst, daß derjenige, der ein freiwillig geleistetes Versprechen, das er halten kann, nicht hält, gewissermaßen zum Mörder seiner Moralität wird. Zweitens war es mir sehr problematisch, ob ich in einer[336] zweiten Ehe finden würde, was ich in der ersten hatte entbehren müssen. Zwar hatte ich es jetzt in meiner Gewalt, zu verhindern, daß der Unterschied der Jahre die Gleichheit der Gefühle nicht aufhob; allein lag nicht in dem Mittel, das ich zu diesem Endzweck anwenden konnte, ein anderes noch wesentlicheres Hinderniß der Gleichheit? Ehemals hatten persönliche Eigenschaften mich wählbar gemacht. Diese waren zwar nicht verschwunden; allein neben ihnen standen staatsbürgerliche Vorzüge von solcher Bedeutung, daß es ungewiß wurde, welche von beiden in einen höheren Anschlag gebracht würden. Ich verabscheuete aber nichts so sehr, als den Gedanken, einen Mann so sehr in Widerspruch mit sich selbst zu setzen, daß ein Heuchler aus ihm werden mußte. Überall konnt' ich nie gewinnen, wohl aber verlieren. Dies gerade machte mich vorsichtig. Um aber meinen Vorsatz desto[337] leichter auszuführen, faßte ich den Entschluß, bis zu einem gewissen Alter nirgend häuslich zu seyn; und kraft dieses Entschlusses haben Sie mich zu Pisa angetroffen, nachdem ich schon seit einigen Jahren umhergereiset bin, die Welt, die ich sonst nur in dem kleinsten Fragment gekannt habe, mehr im Großen kennen zu lernen. Es ist nicht die zweite Ehe, der ich aus dem Wege gehe, sondern die unglückliche Ehe; denn die Ehe selbst ist nach allen Erfahrungen, die ich darüber zu machen Gelegenheit gehabt habe, so wie das natürlichste und einfachste, so auch das genußreichste und edelste aller Verhältnisse, in welches ich ohne Bedenken zurücktreten würde, wenn ich glauben könnte, daß es für mich einen so unschuldigen Gatten gäbe, als ich eine unschuldige Gattin seyn würde.«

Die letzte Bemerkung Eugenia's bezog sich auf neue Heirathsvorschläge, welche[338] ihr in Pisa waren gemacht worden. Ob sie darauf eingehen sollte, oder nicht, darüber war sie nicht länger zweifelhaft, sobald der Zufall uns zusammen gebracht, und eine gewisse Sympathie uns mit einander verbunden hatte. Da sie keinen Beruf fühlte, noch länger in Italien zu verweilen, und ich von einer unbestimmten Sehnsucht in mein Vaterland zurückgetrieben wurde; so vereinigten wir uns leicht, durch das Tyrolische nach Wien zu gehen. Unsere Abreise ging vor sich, sobald die Badezeit vorüber war. Wir kamen ohne Abentheuer in der Kaiserstadt an; und weil der Aufenthalt in den Hauptstädten für Personen, die der Beobachtung noch nicht überdrüßig geworden sind, immer mit großen Reizen verbunden ist, so nahmen wir uns vor, einige Jahre unter den Wienern zu verleben.

Schwerlich hätten wir uns an irgend einem anderen großen Orte so theuer[339] werden können, als in der Hauptstadt der österreichischen Staaten. Hier lebten wir gewissermaßen wie in einer Einöde. Denn nicht genug, daß die Kraft der Hauptstadt eben so auf uns zurückwirkte, als auf die übrigen Bewohner derselben, in sofern sie uns isolirte, fanden wir durch Alles, was wir unsere Eigenthümlichkeit nennen konnten, ein besonderes Hinderniß freundschaftlicher Verbindungen. Dies war die mit Recht verschriene Sinnlichkeit des Volks, unter welchem wir lebten; eine Sinnlichkeit, über welche wir hinaus waren, und die wir eben deswegen weder theilen noch achten konnten. Ist von den geselligen Tugenden der Wiener die Rede, so lasse ich ihnen alle Gerechtigkeit widerfahren; sie sind gastfreundschaftlich und bieder, wie kein anderes Volk, das ich kennen gelernt habe. Allein in diesem Kreise dürften auch alle ihre Vorzüge eingeschlossen seyn; denn sobald von etwas[340] Höherem die Rede ist, strengen sie sich vergeblich an, es zu fassen, und erliegen ihrem geistigen Unvermögen nur allzubald. Mit dem besten Willen, nur Deutsche zu frequentiren, sahen wir uns genöthigt, unseren Geselligkeitstrieb im Umgange mit französischen Ausgewanderten zu stillen, wofern wir nicht ganz auf uns zurückgebracht seyn wollten.

Jahr und Tag war auf diese Weise verflossen, als die französische Gräfin C... sich enger an uns anzuschließen begann. Hätte sie es mit mir allein zu thun gehabt, so würde ihr die Lust dazu nach den ersten Versuchen vergangen seyn; denn meine physiognomische Formel sagte mir gleich bei der ersten Bekanntschaft, daß diese Frau, obgleich, vermöge ihres sehr gebildeten Verstandes, für den Umgang wie geschaffen, zu denjenigen gehöre, mit welchen man sich in kein bleibendes Verhältniß einlassen muß, weil sie seiner unwürdig[341] sind. Da Eugenia aber zwischen uns beiden stand, so war von ihrer Seite der Versuch zu wagen, von der meinigen zu erdulden. Ich war höchst begierig, die Triebfedern kennen zu lernen, welche sie in Bewegung gesetzt hatten; allein wie gespannt auch meine Aufmerksamkeit auf alle ihre Reden seyn mochte, so konnte ich doch eine längere Zeit hindurch nichts Unedles entdecken; und da meine Freundin mir den Vorwurf machte, daß ich in meinem Mißtrauen zu weit ginge, so wurde ich nach und nach sogar geneigt, an der Wahrheit meiner Regel wenigstens in sofern zu zweifeln, als ich einzelne Ausnahmen gestattete.

Die Gräfin war weit häufiger bei uns, als wir bei ihr; die Ursache lag in ihrer gegenwärtigen Lage, welche eine strenge Ökonomie nothwendig machte. Wie selten wir uns aber auch bei ihr zeigen mochten, so hatten wir doch nie das Vergnügen, irgend[342] eine Spur von Reinlichkeit und Ordnung bei ihr zu finden. Eugenia verzieh auch dies, wiewohl sie eingestand, daß alles anders seyn würde, wenn die Gräfin aus Einem Stücke wäre. Ich mochte also noch so deutlich zu erkennen geben, daß wir durch eine engere Verbindung mit dieser Frau unserem Wesen entsagten; meine Winke waren verloren, und Eugenia schien sogar ein gewisses Ergötzen daran zu finden, daß sie eine Frau kennen gelernt hatte, welche alle Weiblichkeit in den Wind schlug und das Gemüth unter die Füße trat.

Wir mochten unsere Besuche drei bis viermal wiederholt haben, als wir bei der Gräfin eine gewisse Aurora kennen lernten, welche, um alles mit einem Worte zu sagen, die Gräfin in Ungebundenheit des Geistes noch übertraf, wiewohl es mir nicht entgehen konnte, daß sie sich, uns gegenüber, nicht wenig Gewalt anthat.[343] Talentvoller und einschmeichelnder kann übrigens kein Weib seyn, als diese Aurora es war. Zu einer Tassonischen Armida fehlte ihr die Schönheit; allein wer hätte diesen Mangel nicht verziehen, wenn er nur ein einzigesmal ein Zeuge ihrer heitern Laune, ihres sprudelnden Witzes, ihrer Sarkasmen auf sich selbst und der Kindlichkeit war, womit sie gelobte sich zu bessern? Alle Männer waren von Auroren wie bezaubert, und die Weiber trösteten sich mit dem Besitz soliderer Eigenschaften, welche Aurora keiner von ihnen streitig machte.

Wir wurden auf die Bekanntschaft des Chevalier de B... vorbereitet, und nicht lange darauf führte die Gräfin ihn bei uns ein. Ein schöner Mann, wenn von bloßem Wuchse die Rede ist! In seinen Mienen lag etwas Hartes, das er vergeblich durch Geschliffenheit und gut gewandte Phrasen zu mildern suchte. Er[344] behauptete – und seine Manieren bewiesen es unwidersprechlich – daß er bis zum Ausbruche der Revolution in den besten Cirkeln der Hauptstadt gelebt und mit dem Hofe durch die Prinzessin Lamballe in der engsten Verbindung gestanden habe; aber seine Auswanderung motivirte er so schlecht, daß er dem Titel eines Chevaliers die größte Schande machte. Übrigens war seine Parthie gleich nach der ersten Bekanntschaft genommen. Um nämlich Eugenien mit Erfolg den Hof machen zu können, glaubte er mich mit tausend Artigkeiten überschütten zu müssen. Was ihm durchaus nicht klar werden wollte, war das Verhältniß, worin wir standen. Denn anstatt Eugeniens Freundin in mir zu sehen, betrachtete er mich fortgesetzt in dem Lichte einer Duenna, und indem er mich als eine solche behandelte, konnte er nicht verfehlen, mir alle Vorsichtigkeit einer Duenna einzuflößen und[345] sich dadurch selbst zu schaden. Nur allzuoft ist es im Leben der Fall, daß die Combinationen der Listigen in sich selbst zusammenstürzen, weil sie nicht umfaßt haben, was sie zu ihrem eigenen Gedeihen umfassen sollten; und es ist mehr als merkwürdig, daß es, um solche Menschen mit Erfolg zu beherrschen und zu seinen Zwecken zu leiten, nur einer Ehrlichkeit bedarf, die alle List überflüssig macht.

Für einen unbefangenen Einsichtsvollen hätte es ein Schauspiel ganz eigener Art seyn müssen, zwei deutsche Frauen ihre Eigenthümlichkeit gegen die Angriffe vertheidigen zu sehen, welche von zwei sehr gewiegten Französinnen, die von einem eben so gewiegten Franzosen unterstützt waren, darauf gemacht wurden. Ich will unsere Gegner nicht beschuldigen, daß sie es darauf anlegten, uns zu demoralisiren; eine solche Absicht zu haben, hätten sie sich in ihrer wahren Gestalt erkennen[346] müssen, welches durchaus nicht der Fall war. Allein die Demoralisation mußte ganz von selbst erfolgen, sobald wir nachgiebig genug waren, uns von ihnen gebieten zu lassen. Und wie dies vermeiden? Die Unwiderstehlichkeit der Franzosen besteht gerade darin, daß sie es in der Kunst des Ausweichens so weit gebracht haben; sie respektiren, dem Scheine nach, jede ihnen gegenüberstehende Individualität, weil sie wissen, daß man sich ihrer durch nichts so leicht bemächtigt, als durch diesen scheinbaren Respekt. Am allergefährlichsten war Aurora. Nach einem gewissen Maaßstab genommen, gab es für sie gar keine Tugend; allein sie beschönigte alle ihre Laster oder Schwächen dadurch, daß sie kein Geheimniß daraus machte, und so oft die Sache ernsthaft zu werden begann, über sich selbst plaisantirte. Zwischen der Gräfin und dem Chevalier in der Mitte stehend, war sie[347] ein ausgesuchtes Werkzeug zur Erreichung jedes egoistischen Zweckes; denn so vollkommen war alles edlere Gemüth in ihr ausgestorben, daß sie sich den größten Abscheulichkeiten preisgegeben haben würde, ohne nur eine Ahnung davon zu haben, daß es Abscheulichkeiten wären. Bewundernswürdig war es, daß alle diese Personen sich mit Idealen trugen, welche nie von ihnen wichen; allein sie blickten darauf hin, wie auf das goldene Zeitalter, und Asträa war für sie auf immer entflohen. Unpartheiisch gesagt, fanden sie alles, was einen Werth in ihren Augen haben konnte, in uns wieder, und die Art des Interesses, welches sie für uns fühlten, mochte zuletzt nur darauf beruhen, daß wir ihre Gegensätze waren; allein, um dies anzuerkennen, hätten sie aus dem Gespinnst heraustreten müssen, womit sie sich umgeben hatten; und so weit reichte ihre Kraft nicht.[348]

Über alle Veredelung hinaus, konnten sie es immer nur darauf anlegen, uns in ihren Wirbel zu ziehen; und für uns bestand die Aufgabe darin, wie wir uns in unserem eigenen Wirbel halten möchten. Eugenien schien die Gefahr minder groß, als mir. Als ich sie eines Tages auf das Verhältniß aufmerksam machte, worein wir gerathen waren, antwortete sie mir: »Wir hätten es ja in unserer Gewalt, dies Verhältniß aufzuheben, sobald wir es für gut befänden. Sie selbst sähe sehr deutlich ein, daß sie dadurch nie gewinnen könnte; allein so lange der Verlust erträglich wäre, würde sie nicht brechen, weil sie doch einigen Ersatz in dem Geistesreichthum dieser Personen fände. Überall begriffe sie nicht, wie wir den längeren Aufenthalt in der Kaiserstadt ohne diesen Umgang ertragen wollten. Das Casperle zu besuchen, fühlten wir uns zu gut, und ganz und gar in die[349] Einsamkeit zurück zu treten, wäre weder heilsam noch unseren Planen entsprechend. Wie wenig Terrain der Chevalier bei ihr gewönne, davon wäre ich selbst Zeuge. Nur Aurora amüsire sie, als ein Wesen, das mit der ganzen Gesellschaft gebrochen habe und noch immer den Ausschlag geben wollte. Es gäbe ja zuletzt kein anderes Mittel, zum Gefühl seines Werthes zu gelangen, als der Umgang mit Personen dieser Art, die sich so treuherzig beredeten, die Geburt habe alles für sie gethan.«

So lange Eugenia dieser Ansicht getreu blieb, konnte ich ganz ruhig seyn. Ich störte also den Chevalier auf keine Weise in seinen Bewerbungen um meine Freundin, und sah es ruhig an, wie Aurora, anstatt die Ungebundenheit zu predigen, sie auf das allerliebenswürdigste repräsentirte. Meine ganze Aufmerksamkeit war nur darauf gerichtet, welche[350] Wendung diese Verbindung nehmen werde, um einen bestimmteren Charakter zu gewinnen.

Die Gräfin ließ mich nicht lange warten. Nachdem sie einigemale in der Gesellschaft gegähnt hatte, brachte sie das Kartenspiel in Vorschlag. Der Chevalier und Aurora waren nicht abgeneigt davon; und da Eugenia und ich die Wirthe waren, so durften wir uns nicht versagen, wie fremd uns auch der Spielgeist seyn mochte. Als aber die Sache einmal in Gang gebracht war, fand kein Stillstand statt. Wie bedeutend auch unsere Verluste seyn mochten, so durften wir sie nur in dem Lichte solcher Tribute betrachten, welche der Freundschaft dargebracht wurden. Dies war indessen der geringste Nachtheil, den wir von unserer Nachgiebigkeit hatten. Ein nicht zu berechnender stand uns dadurch bevor, daß wir uns durch das Spiel mit unseren Gegnern identifiziren[351] mußten. Es ist nun einmal das Eigenthümliche des menschlichen Geistes, immer dahin zu neigen, wo er die meiste Beschäftigung findet, sollte er sich auch dadurch zerstören. So lange der Austausch von Ideen und Gefühlen unsere einzige Unterhaltung gewesen war, fanden Eugenia und ich darin das Mittel, unsere Individualität gegen jeden Angriff zu vertheidigen. Sobald hingegen alle Unterhaltung in Spiel ausgeartet war, kamen wir in eine so unvortheilhafte Stellung, daß aller Widerstand vergeblich wurde und in sich selbst verging. In der That, man braucht nur aus Neigung zu spielen, um das Gefühl seines Werthes zu verlieren und jeder Erhebung unfähig zu werden; denn indem der Geist seine ganze Kraft auf das Spiel richtet, büßet er sie in Beziehung auf alle edleren Gegenstände ein, auf die sie gerichtet werden könnte.[352]

Indem ich diese Reflektionen machte, war ich auch auf den Rückzug bedacht. Aber wie ihn einleiten? Eugenien zurücklassen und sie dem allerschlimmsten Schicksal preisgeben, war eins; und dies vermochte ich nicht über meine Liebe für sie. Eugenien die Augen öffnen, war mißlich, da das Spiel, welches sie liebgewonnen hatte, zwischen ihr und mir in der Mitte stand, und der freundschaftlichen Wärme, womit sie mir sonst entgegen zu kommen pflegte, nur allzuviel Abbruch that. Ich machte den Anfang meiner Operationen damit, daß ich mich vom Spiele ausschloß und dadurch gewissermaßen aus der Schußweite setzte. Dies mußte sehr übel aufgenommen werden; und dies wurde auch wirklich der Fall. Ohne mich indessen daran zu kehren, spielte ich die Beobachterin. Mir selbst zurückgegeben, bemerkte ich mit Entsetzen, welche Fortschritte durch das Spiel in der Familiarität gemacht[353] waren. Aurora fand es gar nicht mehr der Mühe werth, ihre Gebrechen zu verschleiern; sie sprach darüber, als ob es unmöglich wäre, Verstand zu haben und anders zu seyn, als sie. Der Chevalier hatte das Bischen Galanterie, das ihm vorher eigen gewesen war, an den Nagel gehangen, und behielt nur noch die Manieren eines Glücksritters. Die Gräfin gebot mit einer Unverschämtheit, als ob alle Vorrechte in ihr vereinigt worden wären. Und Eugenia blieb bei allen diesen widerwärtigen Äußerungen immer gelassen, weil sie für den Augenblick die Schärfe des Gefühls verloren hatte, wodurch man gegen fremde Anmaßung empört wird. Ich schauderte vor dem Abgrund zurück, in welchen ich meine Freundin stürzen sah; aber ich hatte nicht den Muth, sie darauf hinzuweisen, so lange sie nicht aus ihrer Gleichgültigkeit hervortrat.[354]

Indessen hatten die Ausgewanderten nicht sobald wahrgenommen, daß ich ihrem Interesse abhold sey, als sie es darauf anlegten, Eugenien von mir zu trennen. Aurora wurde dazu gebraucht, dies Meisterstück der Intrigue zu Stande zu bringen. Niemand hatte dazu mehr Geschicklichkeit; denn niemand war um den Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit weniger verlegen, und niemand verstand sich auf die Kunst des Lächerlichmachens besser, als Aurora. Um aber noch von einer anderen Seite her zu wirken, verstärkten sich die Gräfin und der Chevalier dadurch, daß sie mehrere andere Ausgewanderte bei uns einführten. Dies mochte sich zuletzt ganz von selbst machen, da der Gewinn, den man von Eugenien zog, die Lockspeise war; indessen wurde dadurch immer eine große Mehrheit zu Stande gebracht, in welcher sich Eugenia als die einzige Fremde erscheinen und alle Lust[355] zum Widerstande verlieren mußte. Es war zum Erstaunen, mit welcher Freiheit sich alle diese Personen um meine Freundin hinbewegten. Sie, welche für alle der Mittelpunkt hätte seyn sollen, war nichts mehr und nichts weniger, als die Schußscheibe des Geldinteresses. So vollkommen war man hierüber mit sich selbst einig, daß man aus Poissardensinn gar kein Geheimniß mehr machte.

Ich sah alle diese Manövres mit Gelassenheit an, weil meine Stunde noch nicht geschlagen hatte. Um Eugenien von diesen Vampyren zu befreien, mußte ich den Zeitpunkt abwarten, wo sie sich davon beschwert fühlte. Dieser Zeitpunkt konnte möglicherweise nicht eher eintreten, als bis meine Freundin in Geldverlegenheit gerieth und ihre Zuflucht zu meiner Casse nahm. Ich enthielt mich das erstemal aller Bemerkungen über ihre allzuweit getriebene Nachgiebigkeit; aber das[356] zweitemal legte ich ihr ganz unverholen die Frage vor: Ob sie denn dieses eckelhaften Einerleies nicht überdrüßig würde? Sie betrachtete mich nicht ohne Verwunderung; und als ich kühn genug war, meine Frage zu widerholen, anwortete sie: »Was soll ich machen? Verstrickt, wie ich einmal bin, muß ich mein Schicksal ertragen. Ich selbst fühle wohl, daß ich mich von meiner Höhe herabgeworfen habe; allein wie kann ich es anfangen, sie noch einmal zu erreichen?«

Ohne weder die Gräfin, noch den Chevalier, noch Auroren, noch irgend einen von den Übrigen anzuklagen, stellte ich sie Eugenien als Bedürftige dar, welche sie, aus irgend einem Instinkt, eben so behandelten, als sie ehemals den Hof behandelt hätten, und auf gleiche Weise von ihr abfallen würden, sobald sie nichts mehr zu geben hätte. »Es ist,« fügte ich hinzu, »ganz offenbar die Parasitenkunst,[357] die sie treiben; die eckelhafteste von allen Künsten, die es geben kann, weil sie ihre Grundlage weder im Verstande, noch im Gefühl, sondern in einem dumpfen Egoismus hat, der sich nicht besser zu verschleiern weiß, als dadurch, daß er die Miene annimmt, für das Vergnügen Anderer zu sorgen, während er nur den gröbsten Vortheil im Auge hat. Mag es doch in der Gesellschaft Personen geben, denen ihr Recht widerfährt, wenn sie von einem Parasitenheer umlagert werden; allein zu ihnen zu gehören, kann weder angenehm seyn, so lange man die Wahrheit noch von der Lüge zu unterscheiden weiß, noch ehrenvoll, so lange man noch nicht in leerer Repräsentation untergegangen ist. Meine Freundin muß zu einem neuen Leben erwachen; und dies kann nur dadurch geschehen, daß sie solchem Volke den Rücken weiset und es seinem Schicksal überläßt. Man muß die[358] Kraft haben, einem Umgange zu entsagen, durch welchen man nicht veredelt werden kann; denn sonst läuft man Gefahr, wo nicht selbst verunedelt zu werden, doch wenigstens solche Schrammen und Quetschungen davon zu tragen, daß es unmöglich wird, noch einmal zu einem heitern Lebensgenuß aufzusteigen.«

Recht absichtlich drückte ich mich mit dieser Stärke aus, um einen tiefen Eindruck zu machen. Meinem Vorsatze nach wollte ich mich von Eugenien trennen, so bald sie dadurch beleidigt würde. Dies war aber so wenig der Fall, daß nur von den Mitteln die Rede war, sich aus der Schlinge zu ziehen.

Eugenia wollte sogleich abreisen; dagegen aber hatte ich Mehreres einzuwenden. Vor allen Dingen sollte meine Freundin die Kaiserstadt mit eben so unumwölkter Seele verlassen, als sie in dieselbe eingetreten war. Außerdem aber[359] sollten diese Ausgewanderten, deren Rache ich vorhersah, nicht Raum gewinnen, hinter unserem Rücken zu sagen, was sie für gut befinden würden. Zu diesem doppelten Endzweck schlug ich Eugenien eine Reise in die Gebirgsgegenden Böhmens vor, deren bezaubernde Mannigfaltigkeit alle die peinlichen Gefühle zerstreuen mußte, die ihre Wangen mit Schaamröthe überzogen; zugleich aber bat ich sie, davon nicht eher ein Wort zu sagen, als bis alle Reiseanstalten gemacht seyn würden, und alsdann der Gräfin in einem kurzen Billet außer der Abreise zugleich den Tag der Zurückkunft anzuzeigen. Eugenia gab sich meinen Anordnungen mit der Entsagung vertrauender Freundschaft hin. Nach wenig Tagen waren wir reisefertig. Welchen Eindruck unsere plötzliche Abreise auf die edle Gesellschaft machte, läßt sich nur dann berechnen, wenn man sie in ihrer Gemeinheit kannte. Sie mochte davon[360] eben so betroffen seyn, als die National-Versammlung von der Flucht Ludwigs des Sechzehnten.

Unsere Reise brachte alle die Wirkungen hervor, die ich beabsichtigt hatte, und Eugenia dankte dem Himmel für die Freiheit, die ihr zu Theil geworden war. Zur festgesetzten Zeit kehrten wir nach Wien zurück. Die Ausgewanderten unterließen nicht, sich wieder bei uns einzufinden, sobald sie unsere Ankunft erfahren hatten; allein wir hatten es jetzt in unserer Gewalt, jede beliebige Stellung gegen sie anzunehmen. Aurora stellte sich zuerst ein, und ganz offenbar legte sie es darauf an, uns durch ihre Familiarität in das alte Geleise zurück zu führen. Doch die Feierlichkeit, die wir ihr entgegensetzten, verwirrte sie so, daß sie sich ein Dementi über das andere gab, bis sie mit Bekenntnissen hervortrat, auf welche wir gar nicht gefaßt waren. Ihrer Aussage[361] zufolge war unter allen diesen Personen keine einzige ehrliche Seele. Was sie von jeder einzeln sagte, soll mit Stillschweigen übergangen werden. Genug, wir wurden, wenn auch nur die Hälfte von Aurorens Offenbarungen Glauben verdiente, hinlänglich überzeugt, daß wir es mit eigentlichem Auswurf zu thun hatten, der es wohl verdiente, von der Welt verlassen zu seyn und sich selbst zu bekämpfen. Aurora selbst wünschte sich an uns anschließen zu können; allein wir lehnten ihre Bitte ab, weil, wie gut auch ihre Vorsätze für den Augenblick seyn mochten, ihr Inneres durch langen Mißbrauch allzusehr verdorben war, um noch einmal zu genesen. Wir verweilten noch einige Wochen in Wien, um der Welt zu zeigen, daß es zwischen uns und den Ausgewanderten zu einem förmlichen Bruch gekommen wäre, den wir selbst zu Stande gebracht hätten. Alle Billets der Gräfin, des Chevalier u.[362] s. w., die während dieser Zeit ankamen, wurden angenommen, aber nicht beantwortet. Der Verlust, den Eugenia gelitten hatte, war bedeutend genug; indessen ließ er sich ertragen, wenn man in Anschlag brachte, daß sie bestimmt war, noch weit mehr zu verlieren, und nicht nur ihr Vermögen, sondern auch ihre Moralität und ihre Ehre einzubüßen. Hierüber hatte uns Aurora so vollständige Aufschlüsse gegeben, daß die Sache keinem Zweifel unterworfen war. Wien verließen wir mit der traurigen Reflektion, daß, mit allem guten Willen uns an Deutsche anzuschließen, wir unsere Zuflucht zu egoistischen Franzosen hatten nehmen müssen, die in uns nur die leichte Beute schätzten.

Wir durchreiseten einen großen Theil des deutschen Reichs, um einen Aufenthalt zu finden, der unseren Neigungen entspräche; allein wir kamen nicht eher zur Ruhe, als bis Eugenia sich entschloß,[363] in der Nähe von W... das Gut zu kaufen, das wir noch immer bewohnen.

Seit dieser Zeit leben wir in unserer eigenen Welt, hinlänglich geschieden und hinlänglich berührt von unserer Umgebung, um in voller Freiheit zu existiren. Unsere Sorge ging gleich Anfangs dahin, das Nützliche dem Schönen so unterzuordnen, daß dieses ein hinreichendes Fundament in jenem erhielte; und dies ist uns über alle Erwartung gelungen. Unser Gütchen ist der Wohnsitz der Reinlichkeit, der Ordnung, der Bequemlichkeit und Gastfreundlichkeit; und in sofern diese Schöpfung von uns ausgegangen ist, macht sie, hoff ich, unserem Verstande keine Unehre. Die Angelegenheiten der Wirthschaft sind unter uns so getheilt, daß jede von uns ihren eigenen Wirkungskreis hat, ohne gleichwohl dadurch so beschäftigt zu seyn, daß wir außer Stande wären, uns im Nothfall zu ersetzen; denn wir haben das[364] Geheimniß aufgefunden: Alles so zu ordnen, daß es nur eines leichten Impulses bedarf, um das Ganze im Gange zu erhalten. Den Frieden neben die Thätigkeit zu stellen, dies ist die große Kunst bei allen Organisationen; und diese Kunst ist von uns ausgeübt worden.

Wir würden noch immer glücklich seyn, wenn wir auch ganz von der Welt getrennt lebten. Dies ist aber nicht der Fall; wir leben vielmehr mitten in der Welt. Es kam darauf an, eine solche Stellung zu gewinnen, daß wir von dem Geräusch um uns her nur gerade so viel berührt würden, als sich mit der Bestimmung vertrug, die wir uns selbst gegeben hatten. Zu diesem Endzweck konnten wir uns nur dem Umgange solcher Personen hingeben, die wirklich zu uns paßten; allein, indem wir in dieser Hinsicht so klug als vorsichtig waren, brachten wir es dahin, daß wir die ganze Welt durch[365] wenige Personen in einem kurzen Auszuge um uns herstellten. Wer sich mit dem Volumen befaßt, wird davon erdrückt; wer hingegen Verstand genug hat, nur nach der Quintessenz zu streben, behält seine ganze Freiheit und wird durch die höchsten Genüsse belohnt.

Durch Sie, mein theurer Cäsar, wurde ich von neuem in die deutsche Literatur eingeweihet, die mir seit vielen Jahren fremd geworden war; und dafür danke ich Ihnen, wenn es eines Dankes bedarf. Ich habe mich überzeugt, daß die Deutschen in jeder Kunst und Wissenschaft seit ungefähr dreißig Jahren Riesenschritte gemacht haben; und weit entfernt, an einen nahen Stillstand zu glauben, erwarte ich vielmehr von der Zukunft noch glänzendere Perioden. Mag doch die große Mehrheit der Schriftsteller in gar keine Betrachtung kommen; dies verschlägt demjenigen nichts, welcher einsieht,[366] wie nothwendig sie sind, um einen ausgezeichneten hervor zu bringen. Auch das Gold erzeugt sich nur in Bleistufen; und wer verlangt es, daß kein Blei existiren soll? Alle materielle Industrie ist die Bedingung der immateriellen, und in dieser Ansicht mögen wir jene wohl verzeihen.

In der That, ich freue mich, die Zeit erlebt zu haben, in welcher Göthe's natürliche Tochter erscheinen konnte. Höher als jedes andere Produkt desselben Meisters setz' ich dieses. Mag die Mitwelt darüber urtheilen wie sie wolle, die Nachwelt wird darin nur ein Dokument unseres gegenwärtigen Culturgrades erblicken; und auf diese Weise erwarte ich nichts Geringeres, als daß die natürliche Tochter die Zeiten, in welchen wir leben, verherrlichen werde. Was ist es denn zuletzt, was die Lektüre eines Reineke Fuchs so anziehend macht? Meinem Urtheile nach nichts anderes, als die Entdeckung,[367] daß in diesem Gedichte eine große Welt dargestellt ist, die so und so gegen oder für einander wirkte. Das Feudalwesen in seiner Glorie; dies ist der Inhalt des Reineke Fuchs, und es wäre unendlich zu bedauern, wenn der Verfasser nicht allegorisirt hätte. Das Feudalwesen in seinem Verfall und nahen Zusammensturz; dies ist der Inhalt der natürlichen Tochter, und es wäre eben so unendlich zu bedauern, wenn der Verfasser keinen König, keinen Herzog, keinen Grafen, keinen Weltgeistlichen, keinen Mönch, keinen Gouverneur u.s.w. aufgeführt hätte. Beide Kunstwerke bezeichnen also bestimmte Entwickelungsepochen, und haben in dieser Hinsicht, wie verschieden sie auch ihrem Inhalte nach seyn mögen, gleichen Werth. Ist von der Kraft die Rede, durch welche beide ins Daseyn gerufen wurden, so möchte ich behaupten, daß sie in beiden Verfassern gleich groß[368] war; so daß ich mich gar nicht darüber wundere, wie Göthe der Übersetzer des Reineke Fuchs werden konnte; ein Werk, das mich bezaubert, und dessen sorgfältiges Studium mich zu meiner Ansicht der natürlichen Tochter geführt hat.

Man rühmt es als einen großen Vorzug der letzteren, daß die edlen Formen der Griechen in ihr conzentrirt sind. Was mich betrifft, so bin ich der Meinung, daß die natürliche Tochter als Kunstwerk erbärmlich wenig seyn würde, wenn nur die Formen in Betrachtung gezogen werden sollen. Auch ohne jemals den Aeschylus und Sophokles gelesen zu haben, mußte Göthe, vermöge seines Verstandes, solche Formen erzeugen. Der Geist, welcher in der natürlichen Tochter lebt und webt, ist aber über den der Griechen so unendlich erhaben, daß ich zweifle, Aeschylus und Sophokles würden die natürliche Tochter[369] verstehen, wenn sie ihnen in die Hände gegeben werden könnte.

Da ich einmal ein wenig in das Göthische Kunstwerk verliebt bin; so müssen Sie mir, mein angenehmer Freund, verzeihen, wenn ich zu diesen Bemerkungen noch einige andere hinzufüge, von welchen ich glaube, daß sie zur Sache gehören.

Mir war bei der Lektüre der natürlichen Tochter eben so zu Muthe, als bei der Betrachtung der Verklärung Raphaels. Anfangs wußte ich nicht, wodurch ich in diese Stimmung gerathen war; als ich aber tiefer nachdachte, entdeckte ich zwischen beiden Kunstwerken eine auffallende Ähnlichkeit, welche darin bestand, daß in beiden eine doppelte Handlung vorgeht, welche die höchste Einheit mit sich führt. Wollen Sie sich gefälligst desjenigen erinnern, was ich weiter oben über das Raphaelsche Kunstwerk als Urtheil meiner verewigten Freundin bemerkt habe; so[370] müssen Sie gestehen, daß das Wunder der Verklärung zu der fehlgeschlagenen Heilung des besessenen Knaben in eben dem Verhältnisse steht, worin sich die Revolution zu Eugenia's Schicksal befindet. Vereinigung des Epischen mit dem Dramatischen war wie Raphaels so auch Göthe's Zweck, und beide haben ihn auf das allervollkommenste erreicht, indem sie die doppelte Handlung so stellten, daß die eine die andere beleuchtet und aufklärt. Ist nicht alles, was der Göthischen Eugenia begegnet, von einer solchen Beschaffenheit, daß es in dumpfes Erstaunen setzt, wofern man nicht an das zurückdenkt, was der ganzen Gesellschaft, zu welcher sie gehört, bevorsteht? Nur auf diese Weise ließ sich eine große Revolution auf die Bühne bringen; aber indem sie im Hintergrunde gehalten werden mußte, so konnte es schwerlich fehlen, daß alle diejenigen (Zuschauer oder Leser), denen es an Einbildungskraft[371] gebrach, von der Handlung sehr wenig ergriffen werden, und daß Göthe in dieser Hinsicht Raphaels Schicksal theilte, an dessen Verklärung die gewöhnliche Critik zur Tadlerin werden mußte.

Große, hocherhebende Gefühle wollte der Dichter erzeugen, und solche hat er in allen denen erzeugt, die ihn zu fassen Kraft genug haben. Doch auf die Menge konnte er nicht einwirken. Dieser mußte es sogar problematisch werden, ob sein Kunstwerk für eine wahre Tragödie zu achten sey, da sie sich in derselben durch nichts gemartert und gefoltert fühlte. Mit tiefer, alles umfassender Menschenkenntniß hatte der Dichter gezeigt, wie aus Eugenia's nicht gesetzmäßiger Geburt sich, mit ihren seltenen Talenten und ungemeinen Eigenschaften, ihre Ansprüche auf anerkannte Hoheit und ihre Schicksale entwickelten; allein sich mit einem solchen Wesen, wie diese Eugenia ist, zu identifiziren,[372] ist der großen Menge unmöglich; und da sie die Heldin des Drama's nicht vor ihren Augen vernichtet sieht, so entgeht ihr diejenige Vernichtung, welche Eugenia dadurch erfährt, daß die Flammen der Revolution über alle ihre Wünsche, Hoffnungen und Ideale zusammenschlagen. Nur dem gebildeten Zuschauer oder Leser ist es einerlei, ob er eine Iphigenia in Aulis zum Opferaltare führen, oder eine Eugenia ein Mißbündniß eingehen sieht; und wie sehr der Dichter auf diese höhere Bildung gerechnet habe, liegt darin am Tage, daß er den Schmerz über Eugenia unglückseliges Geschick nicht besser besänftigen zu können glaubte, als wenn er ihrem letzten Schritte Vaterlandsliebe zum Grunde legte, und sie noch obendrein zur Gattin eines achtbaren Mannes machte. Wäre Göthe's Empfindsamkeit allen Zuschauern und Lesern seiner Eugenia eigen, so müßten sie in eben die melancholische[373] Stimmung gerathen, in welcher er sein Kunstwerk schuf. Es ist also nur das Mißverhältniß, worin Göthe, als Culturgeschöpf, zu der Welt, auf welche er einwirken möchte, steht, was alle die schiefen Urtheile zu verantworten hat, die über seine Eugenia, wie über seine übrigen Dramen, gefällt worden sind. Ob dies Verhältniß immer dasselbe bleiben werde, mag ich nicht entscheiden; kommt aber die Welt auf ihrem Entwickelungsgange so weit, daß sie Göthen fassen lernt, so muß das Schicksal seiner Eugenia eben so tiefe Rührungen hervorbringen, als alles, worüber das Publikum gegenwärtig in Thränen zerfließet; nur mit dem Unterschiede, daß man sich in Göthe's Dramen zugleich im Gemüthe verwirrt und im Geiste erleuchtet, zugleich niedergedrückt und gehoben fühlen wird.

So wie die Sachen gegenwärtig stehen, ist dies unmöglich. Denn – um bei[374] der natürlichen Tochter stehen zu bleiben – es ist nicht Eugenia's Individualität allein, was den größten Theil der Zuschauer oder Leser unberührt läßt; die übrigen Personen des Drama's sind ihnen nicht minder unbegreiflich. Um in diesem Herzog den schwankenden Vasallen neben dem gefühlvollen Vater, in diesem Sekretär das egoistische Werkzeug eines fremden Willens, in dieser Hofmeisterin die verzweifelnde Jungfrau, in diesem Gouverneur das Geschöpf militairischer Disciplin, in dieser Äbtissin die durch die weltliche Macht beschränkte Frau, in diesem Mönch den religiösen Schwärmer, in diesem Gerichtsrath den über sein Geschäft hoch erhabenen, das Recht idealisirenden Menschen zu fassen, muß man etwas mehr von der Welt begriffen haben, als die große Mehrheit, der alles, was gesellschaftliches Verhältniß genannt werden mag, ein unauflösliches Räthsel ist. Ohne Zweifel hing[375] es nur von dem Dichter ab, sein Kunstwerk dennoch der großen Mehrheit angenehm zu machen; aber alsdann hätte er eben die Wege einschlagen müssen, welche Schakespear einschlug, so oft es ihm darauf ankam, ungemeinen Charakteren Eingang zu verschaffen; nämlich viel Theatergeräusch in nächtlichen Erscheinungen, Zweikämpfen u.s.w. Da Göthe dies nicht gethan hat, so müssen wir annehmen, daß er dergleichen Behelfe verachtet; und wie kann man anders als sie verachten, wenn man nicht zu dem großen Haufen gehört, oder für ihn lebt? Die Unsterblichkeit sichert man sich nur dadurch, daß man die eigene Individualität vor allen Verunstaltungen bewahrt; und wenn Alfieri über irgend einen Punkt Recht hatte, so war es in der Behauptung, daß nur diejenige Schriftstellerei einen Werth haben könne, deren Inzentiv ein großer, ewig dauernder Ruhm ist. Ich stelle mir vor,[376] daß es mir an Göthe's Stelle Vergnügen machen würde, in meinen dramatischen Werken die Verzweiflung der Schauspieler und Kritiker zu erblicken.

So viel über Göthe's Eugenia, deren Lektüre mir unaussprechliches Vergnügen gemacht hat; ein Kunstwerk, das sich in jedem Betracht den ersten Meisterwerken aller Nationen zur Seite stellen kann, ohne durch die Vergleichung zu leiden, und das ganz unstreitig das allervollkommenste ist, das der deutsche Geist jemals geschaffen hat.

Ich komme nach dieser Abschweifung auf mich selbst zurück.

Durch die Lektüre auserlesener Geisteswerke erhalte ich meinem eigenen Geiste die jugendliche Kraft, wodurch ich mich von anderen Personen meines Alters unterscheide. Allen meinen Erfahrungen nach, giebt es kein besseres Mittel, dem Alter auszuweichen. Eine Sammlung wirklich[377] geistreicher Schriften hat den Vorzug selbst vor der besten Gesellschaft. Einmal behält man seiner Bibliothek gegenüber die vollste Freiheit, welche nothwendig verloren geht, wenn man sich, im persönlichen Umgange, fremden Individualitäten anschmiegen muß. Zweitens hat man den Vortheil, die Geister in ihren Sonntagsschmuck zu sehen, d.h. nicht verunstaltet durch Launen, Antipathien und alle die Wirkungen momentaner Eindrücke, welche die Mittheilung hemmen; denn wer sich einmal an sein Pult gesetzt hat, um mit der Welt zu sprechen, befindet sich gewiß in der ihm vortheilhaftesten Verfassung. Drittens hat man es in seiner Gewalt, aufzurufen welchen Geist man will, nur ihm zu leben, und ihm nur so lange zu leben, als man es für gut befindet. In der That, ich wundere mich, wie so viele Personen, welche auf Bildung Anspruch machen, diese Vorzüge verkennend, den Geselligkeitstrieb[378] nur dann zu befriedigen glauben, wenn sie sich durch den Umgang auf die Folter spannen lassen.

Da von meinen Schicksalen nicht weiter die Rede seyn kann, so bleibt mir nur noch übrig, von meiner Lebensweise und meinen Erwartungen zu sprechen.

Ich habe die Gewohnheiten und Neigungen meiner Jugend immer beibehalten; ich konnte es, weil sie in jeder Hinsicht leicht und bequem waren, und that es, weil ich mich dabei wohl befand. Meiner Mäßigkeit verdanke ich, daß ich nie krank gewesen bin. Aber ich kann mit gleicher Wahrheit sagen, daß ich mich nie unglücklich gefühlt habe; und dies bedeutet etwas mehr. Vielleicht sind die Gemüthskräfte nie so stark in mir gewesen, daß sie mich zu inneren Widersprüchen führen konnten; vielleicht aber auch hat die frühe Gewöhnung, ihren Anfällen zu begegnen, die Wirkung hervorgebracht,[379] daß ich mir zu allen Zeiten klar und gleich bleiben konnte. Dem sey wie ihm wolle – denn hierüber ganz ins Reine zu kommen, ist vielleicht unmöglich – indem ich Anderen eben so sehr gelebt habe, als mir selbst, habe ich immer einer beneidenswerthen Ruhe und Heiterkeit genossen. Jungfrau bin ich geblieben, weil nach Moritz sich mir kein Mann dargestellt hat, dem ich meine Freiheit aufzuopfern der Mühe werth gehalten hätte; ich muß mich so ausdrücken, ob ich gleich bei mir überzeugt bin, daß meine Jungfrauschaft nicht die Folge des Raisonnements bei mir gewesen ist. Wäre ich Gattin und Mutter geworden, so würde ich diesen Verhältnissen keine Schande gemacht haben; denn Treue und Liebe lagen in meinem Wesen eingehüllt. Als eine geborne Catholikin würd' ich mich nach Moritzens Tode entschlossen haben, in irgend ein Kloster zu gehen; schwerlich aber wäre dann aus mir[380] geworden, was ich jetzt bin, und in sofern ich einen Werth auf mich setze, freue ich mich auch, eine Protestantin zu seyn. Ich fürchte weder den Verfall, noch den Tod. Den ersteren betrachte ich als eine Folge des mangelnden Reizes, und so lange mir noch mein Bewußtseyn bleibt, werd' ich dafür sorgen, daß dieser Mangel mich nicht treffe. In dem letzteren seh' ich nur den Stillstand einer Maschine, die nicht für die Ewigkeit geschaffen wurde. So lange ich lebe, werd' ich mich auch wohlbefinden. Mein Arkanum in dieser Hinsicht ist sehr einfach. Es heißt: Fliehe den Umgang mit alten und langweiligen Personen. Nichts verbittert das Leben so bestimmt und tödtet so sicher, als das überhandnehmende Gefühl der Langenweile. Gewissen Anzeigen nach, werd' ich aber ein hohes Alter erreichen, ohne daß ich dies gerade wünsche. Denn blick' ich auf die Vergangenheit zurück, so dehnt sie sich[381] unermeßlich vor mir aus, welches durchaus nicht der Fall seyn könnte, wenn der langweiligen Tage, Wochen, Monate in ihr sehr viele gewesen wären. Ich glaube nämlich die Bemerkung gemacht zu haben, daß es in jedem Menschen ein von allen künstlichen Zeitmaaßen ganz unabhängiges giebt, nach welchem das Fortschreiten der Zeit durch Gefühle und Ideen bezeichnet wird. Vermöge dieses natürlichen Zeitmaaßes muß eben die Zeit, welche im Durchleben sehr rasch vorüber zu fliegen scheint, in der Zurückerinnerung eine große Ausdehnung gewinnen, und umgekehrt die träg vorüber schleichende Zeit in der Erinnerung zusammen schrumpfen. Da ich aber die letzte Erfahrung durchaus noch nicht an mir selbst gemacht habe, so muß ich daraus schließen, daß noch ein hohes Maaß von Lebenskraft in mir ist, und ich für eine ungewöhnlich lange Dauer bestimmt bin. Doch dies komme, wie es wolle, ich werde mit meinem Geschick künftig eben[382] so zufrieden seyn, als ich es gegenwärtig bin. Das Einzige, warum ich den Himmel bitten möchte, ist die Erhaltung der letzten Freunde, die er mir zuführte. Bessere werd' ich niemals wiederfinden, und ein freundloses Leben hat so viel Abscheuliches für mich, daß ich lieber gar nicht mehr existiren will, wenn die nackte Existenz durch sich selbst bedingt ist.


Und nun, mein theurer Cäsar, hab' ich Ihnen alles mitgetheilt, was Sie wissen mußten, um mich nach meinem ganzen Wesen zu begreifen. Von größerer Ausführlichkeit haben mich zwei Rücksichten abgehalten. Einmal wollte ich Ihnen so wenig Langeweile machen, als mir immer möglich wäre, und Ihnen schlechterdings nichts von dem wiederholen, was sonst wohl zwischen uns beiden zur Sprache gekommen ist. Zweitens – ich weiß, Sie verzeihen, daß ich bei einem so unangenehmen Geschäfte,[383] als das Schreiben nun einmal ist, auch an mich gedacht habe – wollte ich mir durch alle diese Bekenntnisse nur die Abwesenheit meiner Freundin erträglicher machen, und folglich nur bis zu ihrer Zurückkunft an meinem Pulte kleben. Ich habe das Vergnügen, Ihnen zu melden, daß Eugenia übermorgen ganz unfehlbar wieder eintreffen wird. Unstreitig werden Sie bald zu uns kommen, und dann Ihre Mirabella mit ganz anderen Augen betrachten, als es bisher der Fall war. Nun, es wird sich zeigen, ob ich durch meine Aufrichtigkeit bei Ihnen gewonnen oder verloren habe. Immer war es meine Sache, für nichts mehr und nichts weniger gelten zu wollen, als was ich wirklich bin. Adieu.[384]

Quelle:
Friederike Helene Unger: Bekenntnisse einer schönen Seele. Berlin 1806, S. 265-385.
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